Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Wer war dogmatischer? Steinitz oder Tarrasch?“

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Beitrag von Kiffing

Sowohl der Erfinder des wissenschaftlichen modernen Schachspiels, Wilhelm Steinitz, als auch dem Verbreiter und Weiterentwickler seiner Lehren, Siegbert Tarrasch, wurde eine gewisse Dogmatik nachgesagt, gegen die sich später die Hypermodernen, Alexander Aljechin und die Sowjetische Schachschule mit ihrem konkret-schöpferischen Ansatz wehrten und erfolgreich die mit den Modernen einhergehende Angst vor dem „Remistod“ verbannen konnten. Die Frage ist nun, wer von beiden modernen Schachmeistern nun dogmatischer gewesen ist, Wilhelm Steinitz oder Siegbert Tarrasch? Bevor wir darüber diskutieren können, stelle ich zwei entgegengesetzte Meinungen von anerkannten historischen Schachmeistern zur Verfügung, die in ihrer Widersprüchlichkeit einen würdigen Diskussionsrahmen abbilden.Isaak Lipnitzky etwa hält Wilhelm Steinitz für den stärkeren Dogmatiker. In seinem Werk Fragen der modernen Schachtheorie, Quality-Chess 2008, S. 77 schreibt er:[QUOTE]In der Schachliteratur wird Tarrasch gewöhnlich als noch stärkerer Dogmatiker angesehen als Steinitz. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Tschigorin, der gegen beide Dutzende von Turnierpartien gespielt hatte und sie sehr gut kannte, eine andere Meinung hatte. Er behauptete einmal, daß Tarrasch, obwohl ein Jünger von Steinitz, viel flexibler agierte und weniger engstirnig den ein für alle Mal postulierten Dogmen verhaftet blieb – und daß ihm dies im praktischen Spiel zu einem weit gefährlicheren Gegner machte[/QUOTE]Die Aussage dürfte ein wenig verwunderlich stimmen. Denn während Michail Tschigorin Siegbert Tarrasch bei ihrem Zweikampf 1893 in St. Petersburg ein 11:11 abtrotzen konnte, verlor Tschigorin beide WM-Kämpfe gegen Wilhelm Steinitz in Havanna (1889: 10,5-6,5; 1892: 12,5 -10,5). Allerdings ist man sich heute in der Schachwelt sicher, daß sich Tschigorin in beiden Duellen unter Wert verkauft hatte, da er oft genug bessere Stellungen herschenkte und das ein oder andere Mal an seinen Nerven scheiterte. Bedenkt etwa seinen „Fehler des Jahrhunderts“ in der 23. Matchpartie 1892. Der renommierte Schach-Biograph Dr. Jacques Hannack dagegen ist anderer Ansicht. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Schachs durch Emanuel Lasker charakterisiert er die beiden [URL="http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41759438.html"]folgendermaßen[/URL]:[QUOTE] Steinitz hatte den jeweils wissenschaftlich richtigsten Zug gesucht, Tarrasch hat jeweils behauptet, den wissenschaftlich richtigen Zug gefunden zu haben. Lasker aber hat keines von beiden getan; ihn hat nicht der wissenschaftlich richtige Zug, sondern immer nur der für den konkreten Gegner am wenigsten angenehme Zug interessiert, gleichgültig, ob er wissenschaftlich richtig oder falsch war. Nach seiner Theorie gab es soviel richtige Züge, als es psychologisch differenzierte Gegner gab [/QUOTE] Nach Hannack wäre also Tarrasch wiederum der Dogmatischere von beiden, weil jemand, der sucht schon per definitionem weniger dogmatisch ist als jemand, der meint, etwas schon gefunden zu haben.Wie denkt ihr darüber?

Beitrag von zugzwang

Vielleicht hat diese Niederlage - nach hypermodernem Eröffnungsansatz bzw. nach Vorbild von Louis Paulsen - Tarrasch die größeren Experimente ausgestrieben?[Event "Hamburg"][Site "Hamburg, Germany"][Date "1885.07.13"][EventDate "1885.07.13"][Round "2"][Result "1-0"][White "Berthold Englisch"][Black "Siegbert Tarrasch"][ECO "E76"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "87"]1.d4 Nf6 2.c4 g6 3.Nc3 Bg7 4.e4 d6 5.f4 O-O 6.Nf3 Nbd7 7.Be2e5 8.dxe5 dxe5 9.fxe5 Ng4 10.Bg5 Qe8 11.Nd5 Ngxe5 12.Be7 Nxf3+13.Bxf3 c6 14.Bxf8 Qxf8 15.Nc3 Qc5 16.Qb3 Ne5 17.O-O-O Nxc418.Rd8+ Bf8 19.Rhd1 Be6 20.Rxa8 Qg5+ 21.Kb1 Nd2+ 22.Rxd2 Bxb323.Rdd8 Bc4 24.Rxf8+ Kg7 25.Rfd8 b5 26.b3 Bf1 27.Rd7 Qc528.Nd1 b4 29.Rd2 Qe5 30.Rxa7 Qxh2 31.Rdd7 Kh6 32.Rxf7 Bd3+33.Kc1 Qe5 34.Kd2 Bxe4 35.Bxe4 Qxe4 36.Ne3 Qb1 37.Ke2 Qb2+38.Kf3 c5 39.Rad7 Qc3 40.g4 Qa1 41.Rxh7+ Kg5 42.Rd5+ Kf643.g5+ Ke6 44.Rdd7 1-0Tarrasch hatte wie Keres das Pech in seinem Zeitalter Spieler zu finden, die einen Tick erfolgreicher waren.Als Schachlehrer hat Tarrasch viel mehr anzubieten als den Dogmatismus, der ihm aufgrund seiner recht harschen Artiekel zugeschrieben wird.Kurz: Tarrasch war wie Steinitz, Tschigorin, Lasker und Pillsbury ein Schachgenie seiner Epoche!Und noch ein kleines Beispiel für Tarraschs "dogmatischen Spielpragmatismus":confused::eek::denknach:[SPOILER=zz3.1]r2q1rk1/1b4np/p3p1n1/1p1p3Q/2p3N1/1P1BPR2/PBPP2PP/5RK1 w - - 0 19[/SPOILER]Tarrasch mit Weiß am Zug - forciert, aber kreativ.[Site "Munich"][Date "1915.??.??"][Result "1-0"][White "Siegbert Tarrasch"][Black "Satzinger"][ECO "A02"]1.f4 e6 2.Nf3 d5 3.e3 c5 4.b3 Be7 5.Bb2 Bf6 6.Ne5 Bxe5 7.fxe5Ne7 8.Bd3 Nbc6 9.O-O O-O 10.Qh5 Ng6 11.Rf3 Nce7 12.Nc3 a613.Raf1 b5 14.Nd1 Bb7 15.Nf2 c4 16.Ng4 f5 17.exf6 Nf5 18.fxg7Nxg7 19.Qxh7+ Kxh7 20.Rh3+ Kg8 21.Nh6+ Kh7 22.Nf7+ Kg8 23.Rh8+Nxh8 24.Nh6# 1-0Vermutlich eine "freie Partie" - mit leichter Tarrasch-Hand dirigiert.

Beitrag von Kiffing

Tarrasch finde ich ehrlich gesagt als Person gar nicht so schlimm. Er machte zwar oft einen sehr ernsten Eindruck, hatte aber einen sehr feinen, tiefen und trockenen Humor. Außerdem war er in gemütlicher Runde auch dem Weine nicht abgeneigt und konnte ein guter Gesellschafter sein. Generell muß man aber unterscheiden zwischen dem Schachspieler Tarrasch und dem Schachlehrer Tarrasch. Der Schachtrainer Tarrasch scheint mir sehr dogmatisch gewesen zu sein, was ja auch mehrfach belegt ist. Der Spieler Tarrasch dagegen konnte auch gerne einmal von seinem üblicherweise "gesunden" Stil abweichen, wenn es die Umstände erforderten. Außerdem leistete er sich nicht diese Extravaganzen von Steinitz, der sich z. B. sehr stark hinten einigeln konnte, um seinen Gegner ja keine Angriffsflächen zu bieten. Tarrasch war da wesentlich aktiver und auch dynamischer. Und daß er nicht ohne Grundlage angreifen wollte, kann man ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Deswegen sagt man ja auch gerne, Tarrasch habe die Lehren von Steinitz nicht nur popularisiert, sondern auch verfeinert und weiterentwickelt.