Schachburg-Archiv: Benutzerthema „War Akiba Rubinstein jemals der beste Spieler seiner Zeit?“

schachburg.de

Beitrag von sorim

Akiba erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. 1909 erzielte er eines seiner besten Resultate, als er zusammen mit Lasker den ersten Preis im St. Petersburger Turnier teilte, 3½ Punkte vor dem Rest des Feldes. Dies war der Zeitpunkt, als man in der Öffentlichkeit begann, Rubinstein als den wahrscheinlichsten Herausforderer für einen Titelkampf zu favorisieren.Sein magisches Jahr hatte er freilich 1912, als er jedes Einzelturnier gewann, an dem er teilnahm. Dies waren lange Turniere, bei denen um die 20 Runden gespielt wurden. Daher war eine solch absolute Überlegenheit alles andere als leicht zu erringen, und seit den Tagen Morphys hatte man sie auch nicht wieder gesehen. Sehr zu Akibas Verdruss war jedoch Emanuel Lasker in den Vorkriegsjahren im Besitz des Weltmeistertitels. Lasker war nicht nur ein sehr starker Spieler, sondern er verstand es auch, aus seinem Recht, den Herausforderer zu bestimmen, vollen Nutzen zu ziehen. So zwang er beispielsweise Schlechter dazu, ein Match unter skandalös ungerechten Bedingungen zu spielen (obwohl erwähnt werden sollte, dass er seinen Titel trotzdem nur mit einer gehörigen Portion Glück behielt). Von daher verwundert es kaum, dass er 27 Jahre auf dem Schachthron residieren konnte.Auch wenn es nicht viele historischen Belege dafür gibt, so können wir doch vermuten, dass Lasker alles daran setzte, das offensichtlich unvermeidliche Match gegen Rubinstein hinauszuzögern. Nach langen Verhandlungen wurde das Aufeinandertreffen für den Oktober 1914 anberaumt, doch dann kam der Krieg und mit ihm das Schachleben praktisch zum Stillstand. Akibas Nerven scheinen unter dem Weltbrand arg gelitten zu haben, und auch wenn er bis zu seinem letzten bedeutenden Turnier (Schacholympiade in Prag 1931) ein gefürchteter Kontrahent blieb, war er doch nie wieder der gleiche Spieler wie zuvor. Und in der Konsequenz verschwand er auch, in den Augen der öffentlichen Meinung, von der Bühne der potenziellen Herausforderer.Von den Legenden Lernen – Schachkönige im ExkursMihail Marin

Beitrag von Kiffing

Emanuel Lasker war sicherlich nicht allzu kooperativ bei seinen Titelverteidigungen, allerdings sollte man auch bedenken, daß Lasker dadurch, daß er von seinem Herausforderer immer eine hohe Gage forderte, viel zur Professionalisierung des Schachsports getan hatte. Er war gewissermaßen in der Beziehung ein Vorreiter von Robert James Fischer. So meinte Lasker:[QUOTE]Ich bin bereit, gegen jeden der Anwärter anzutreten, doch wenn die Schach-Welt einen WM-Kampf mit mir und einem der Anwärter sehen will, so muß sie nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch materielle Werte bieten. Ich lasse mich nicht ausbeuten. Ich möchte nicht das gleiche Schicksal von Schachspielern erleiden, die emtweder wie Kieseritzky, Zukertort und Mackenzie, Hungers starben, oder, ähnlich wie Pillsbury und Steinitz, gesellschaftliche Fürsorge in Anspruch nehmen mußten und, heruntergekommen, in geistiger Umnachtung, ihr Leben im Krankenhaus beendeten. Ich bin bereit, der Welt einen Einblick in meine Kunst und Gedankenwelt zu gewähren und damit die Entwicklung des Schachspiels voranzutreiben, doch ich will auch, daß sie sich ihrer Verantwortung den Schachspielern gegenüber bewußt ist und danach handelt[/QUOTE]Garri Kasparov, Meine großen Vorkämpfer, Band 1, Edition Olms, 2006, S. 221Daß es am Ende nicht zu einem WM-Kampf Lasker gegen Rubinstein kam, der zweifelsohne ungeheuer interessant gewesen wäre, lag auch laut Kasparov ein bißchen an Rubinstein selbst:[QUOTE]Es bleibt unklar, ob es an dem nahenden Ersten Weltkrieg lag, oder ob Rubinstein doch einfach der Mut fehlte fehlte – jedenfalls konnte er sich letztendlich nicht dazu durchringen, den Champion offiziell zu fordern. Er war ein ruhiger und bescheidener und sehr zurückgezogen lebender Mensch, der vor allem nicht pragmatisch handeln konnte, wie es aber in gewissen Situationen nun einmal unerläßlich ist[/QUOTE]Ebd. S. 220Akiba Rubinstein hatte sicherlich außergewöhnliche Stärken, der Partien gespielt hatte, die seine hohe Meisterschaft in Vollendung zeigten. Jedoch stand ihm zeitlebens eine gewisse Nervosität im Wege, durch die er sich selbst, etwa durch Patzer in Gewinnstellungen oder in den letzten Runden von Turnieren, kurz vor dem Ziele noch ein Bein stellte. Sein Versagen beim so wichtigen Turnier 1914 in St. Petersburg (also schon vor dem Ersten Weltkrieg, der für seine Anspannungen im Eingangsbeitrag als Grund genannt wurde!) war etwa so ein Schlüsselereignis, und nach dem Ersten Weltkrieg fiel er richtig ab, weil seine nervlichen Überspannungen einfach zu groß wurden. Von da an drängten sich andere in den Vordergrund. Von seiner nervlichen Beeinträchtigung zeugt die folgende Quelle von [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Akiba_Rubinstein"]Grigori Löwenfisch[/URL]:[QUOTE]Ich half dem Organisationskomitee [des Großmeisterturniers in St. Petersburg 1914] bei der Unterbringung der Teilnehmer. Rubinstein kam eine Woche vor Beginn des Turniers an, und ihm wurde ein ausgezeichnetes Zimmer im ‚Europäischen Hotel‘ zugewiesen. Aber schon zwei Tage später äußerte er Unzufriedenheit mit seinem Quartier: ihn belästigten die Geräusche des Fahrstuhls. Eines der Organisationsmitglieder bot ihm daraufhin Aufenthalt in seinem Hause an, wo Rubinstein ein beliebiges Zimmer zur Verfügung stünde. Es gab sechs zur Auswahl, und der Gastgeber war der einzige Bewohner des Hauses. Rubinstein fuhr hin, doch wiederum tauchten Unannehmlichkeiten auf: die Stille des Hauses bedrückte ihn. Er wurde wieder zurück ins Hotel gebracht. Mir wurde klar: Akibas Nervensystem war zerrüttet. Dies hat ihm auch späterhin nichts Gutes gebracht:[/QUOTE]Sogar, was seine spielerischen Leistungen angeht, gab es Sonnenflecken. Kasparov urteilt bei der Analyse seiner verdorbenen Remispartie gegen Capablanca in der Vorrunde von St. Petersburg:[QUOTE]Es ergibt sich die Frage: Blieb Rubinstein der Sieg rein zufällig versagt? Ich denke nicht. Erinnern wir uns an seinen Fehlschlag gegen Capablanca in San Sebastian 1911: 38. Ld5? [...] oder auch an andere „Fehlschüsse“, die mit den Jahren immer häufiger wurden. Sicher war er in erster Linie ein großer Denker und Forscher des Schachs, der auf dem Brett oftmals zu konservativ agierte und daher rein spielerisch Capablanca und Lasker nicht das Wasser treichen konnte. Um eine hohe Spannung aufrecht zu erhalten und derart hartnäckige Gegner bezwingen zu können, muß man wie eine Katze mindestens neun Leben haben! [/QUOTE]Garri Kasparov, Meine großen Vorkämpfer, Band 2, Edition Olms, 2006, S. 44Na ja, Weltmeister wurde er nicht, aber immerhin hat er es zu einem Spieler gebracht, dessen Name immer genannt wird, wenn es um Überlegungen geht, wer der stärkste Nichtweltmeister der Schachgeschichte gewesen sei. Und viele seiner Partien bereiten uns auch heute noch größte Freude! :)

Beitrag von sorim

Man kann über die FIDE sagen was man will (ich mag sie auch nicht besonders) Aber immerhin spielen immer die spielstärksten Spieler um die WM und nicht die Spieler mit der größten Geldbörse (bzw. Förderer).

Beitrag von zugzwang

[QUOTE=sorim;17234]...So zwang er beispielsweise Schlechter dazu, ein Match unter skandalös ungerechten Bedingungen zu spielen (obwohl erwähnt werden sollte, dass er seinen Titel trotzdem nur mit einer gehörigen Portion Glück behielt). Von daher verwundert es kaum, dass er 27 Jahre auf dem Schachthron residieren konnte.Auch wenn es nicht viele historischen Belege dafür gibt, so können wir doch vermuten, dass Lasker alles daran setzte, das offensichtlich unvermeidliche Match gegen Rubinstein hinauszuzögern...[/QUOTE]Ich muß hier etwas "Nebentopic" einsteigen.Ich habe meine Zweifel, ob die Untertöne gegen Lasker nicht etwas ungerecht sind.Er war bestimmt keine einfache Persönlichkeit, doch standen ihm einige Gegenspieler bestimmt nicht nach.Daß Dr. Tarrasch erst spät und nach seinem Zenit gegen Dr. Lasker antreten konnte, hat er wohl nicht zuletzt seiner großen Arroganz gegenüber dem jungen Lasker zu verdanken.Zum Match Lasker-Schlechter ist zu sagen, daß sich Lasker selbst in die Finanzierungsangelegenheiten einschaltete, nachdem Schlechter nicht genügend Sponsoren auftreiben konnte. Der Wettkampf wurde aus Finanzgründen im Umfang deutlich reduziert (10 Partien) und Lasker ist damit - wie bekannt - durchaus ein Risiko eingegangen. Auch trug er den Wettkampf zur Hälfte in der Heimat des Herausforderers aus - Wien (1921 sogar aus finanziellen Gründen gänzlich).Was waren also die skandalösen Bedingungen des WM-Kampfs 1910?Es gibt da nur merkwürdige Gerüchte wegen des Verlaufs der 10. Partie, aber meines Wissens keine Fakten.Etwas Lesestoff: Thomas Glavinic "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" - ein Roman, aber vllt. gar nicht so weit von der Realität entfernt...!?

Beitrag von Kiffing

[QUOTE=zugzwang] Daß Dr. Tarrasch erst spät und nach seinem Zenit gegen Dr. Lasker antreten konnte, hat er wohl nicht zuletzt seiner großen Arroganz gegenüber dem jungen Lasker zu verdanken.[/QUOTE]Das ist richtig, alleine Tarraschs Einstellung, der amtierende Weltmeister habe ihn als den natürlich besseren Spieler zu fordern, war schon frech. Ergänzen möchte ich freilich, daß auch das vielbeschworene Schicksal da ein Wort mitzureden hatte. Als Tarrasch sich 1904 endlich dazu durchgerungen hatte, Lasker zu fordern, stürzte er beim Eisschuhlaufen schwer und blieb noch Monate später lädiert. So war Tarrasch erst einmal wieder aus dem Spiel. Als es 1908 dann endlich zum Kampf Lasker gegen Tarrasch kam, war es dafür eigentlich schon zu spät, denn der 46 Jahre alte Tarrasch hatte seinen Zenit bereits überschritten. So gehört auch Dr. Tarrasch zu den großen Schachspielern, welche die Möglichkeit dazu gehabt hätten, Weltmeister zu werden, das große Ziel aber nie erreichten. [QUOTE=zugzwang] Was waren also die skandalösen Bedingungen des WM-Kampfs 1910?[/QUOTE]Es wird ja kolportiert, Lasker habe als Bedingung für den WM-Kampf gegen Schlechter als Bedingung festgeschrieben, der Herausforderer müsse mit zwei Punkten Vorsprung gewinnen, um neuer Weltmeister zu werden. Dies würde den für viele unverständlichen Sturmlauf des sonst streng positionell agierenden Carl Schlechter erklären, der gerade dann eingesetzt hatte, als Schlechter das Remis hätte erreichen können. Garri Kasparov äußert sich dazu klar. In seinem ersten Band, Meine großen Vorkämpfer, heißt es:[QUOTE]Weiterhin verständigte man sich darauf, daß der Herausforderer mit zwei Punkten Vprsprung gewinnen muß, um den Titel zu erringen. [/QUOTE]S. 187Der Passus sei aber der Presse verschwiegen worden, wohl in der Befürchtung, daß dieses übertriebene WM-Privileg in der Öffentlichkeit keinen guten Eindruck hinterlassen würde.Im 2. Band dann die Wende. Als Kasparov diesen umstrittenen Passus erneut erwähnt, melden sich auf einmal „die Bearbeiter“, bestehend aus Astrid Hager und Raymund Stolze, und konfrontieren Kasparovs These mit anderen Quellen:[QUOTE]Robert Hübner erwähnt allerdings in diesem Zusammenhang im Teil 2 seiner Artikelserie über dieses Match für die deutsche Zeitschrift ´Schach, Heft 6/1999´, Seite 49 ff. die geltenden Spielbedingungen: „Wer die Mehrzahl der Partien gewinnt, ist Sieger und hat den Titel Weltmeister errungen. Beim gleichen Schlußstande hat der Schiedsrichter in Bezug auf die Titelfrage die Entscheidung zu treffen.“ Als Quellen für dieses wichtige Detail, das ganz nebenbei die Version widerlegt, Schlechter habe unbedingt zwei Punkte Vorsprung gebraucht, um die Schachkrone zu holen, weshalb er die zehnte Partie, die er am Ende verlor, unbedingt auf Gewinn spielte, gibt der deutsche Großmeister die Deutsche Schachzeitung 1910, Seiten 30, 31, sowie die Zeitschriften Deutsches Wochenschach 1909, Seite 459 und die Deutschen Schachblätter 1909/1910, Seite 163 an – Die Bearbeiter [/QUOTE]S. 29 f.Dr. Robert Hübner ist ein überaus gründlicher Mann, der immer streng wissenschaftlich arbeitet. Wenn er so etwas sagt, dann hat das natürlich schon eine gewisse Bedeutung. Es sind wohl wirklich [URL="http://www.schachburg.de/threads/760-Geheimnisse-um-die-Schach-WM-1910"]Geheimnisse[/URL], die sich um diese WM ranken und irgendwie auch mehr als 100 Jahre später nicht gelüftet werden wollen.

Beitrag von zugzwang

Die Begeisterung Marins für Rubinstein ist verständlich, jedoch:[QUOTE=Marin;17234]Akiba erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. 1909 erzielte er eines seiner besten Resultate, als er zusammen mit Lasker den ersten Preis im St. Petersburger Turnier teilte, 3½ Punkte vor dem Rest des Feldes...[/QUOTE]3,5 Punkte vor dem Rest des Feldes, allerdings nicht allein sondern geteilt mit dem amtierenden Weltmeister.[QUOTE=Marin;17234] Dies war der Zeitpunkt, als man in der Öffentlichkeit begann, Rubinstein als den wahrscheinlichsten Herausforderer für einen Titelkampf zu favorisieren...[/QUOTE]Absolut berechtigt, doch hätte nur ein Wettkampf Klarheit über die Spielstärke um 1912/1913 gebracht und die früheren wie auch die späteren Ergebnisse sprechen für Lasker.[QUOTE=Marin;17234]Sein magisches Jahr hatte er freilich 1912, als er jedes Einzelturnier gewann, an dem er teilnahm. Dies waren lange Turniere, bei denen um die 20 Runden gespielt wurden. Daher war eine solch absolute Überlegenheit alles andere als leicht zu erringen, und seit den Tagen Morphys hatte man sie auch nicht wieder gesehen....[/QUOTE]Bei allen diesen Turnieren nahmen 2 der stärksten Spieler dieser Zeit nicht teil:Emanuel Lasker und Jose Raul Capablanca - die Dominatoren der Epoche von 1894-1927.Noch Fragen?Der junge Aljechin (20 Jahre) war auch nur einmal in Wilna mit dabei.Überragende Turniererfolge von Rubinstein, doch nicht im gemeinsamen Turnier mit den allerstärksten Spielern seiner Zeit errungen.Das unterscheidet ihn nicht nur von Lasker und Capablanca sondern auch von Kasparov, der seine Siegesserie 1999/2000 unter Teilnahme einiger seiner größten Widersacher erzielte. Bei Rubinsteins Siegen fehlten 2 der größten Kontrahenten seiner Zeit.Dafür kann Rubinstein nichts, doch sollte man es bei seiner Siegesserie schon erwähnen.Mein Fazit:Akiba Rubinstein konnte aufgrund persönlicher Umstände (Krankheit) und der Weltenlage nicht den Versuch unternehmen, den Weltmeister zu entthronen.Versuche, ihn zum besten Spieler einer bestimmten (kurzen) Zeit zu erklären, scheinen mit nicht genügend belastbar zu sein, wenn man etwas tiefer geht.Zum Titelkampf Lasker-Schlechter 1910:Dr. Hübners Artikelserie in Schach zum Titelkampf findet sich auch im Buch "Der Weltmeisterschaftskampf Lasker-Steinitz 1894" (Edition Marco) wieder (als "Zugabe" ab S.178).Ab S. 186 beschäftigt sich der Doc mit Vorgeschichte, Organisation und Regularien des Wettkampfs. Hier findet sich auch der Ansatz für den 2-Punkte-Mythos.Ursprünglich war ein Kampf über 30 (!!) Partien geplant und für einen Sieg mindestens 2 Punkte Vorsprung. Stichkampf bei unentschieden.Die 2 Punkte Vorsprung galten für beide Seiten lt. Formulierung.Unklar bleibt für mich wie ein 15,5:14,5 für eine Partei behandelt worden wäre...:Kein "Sieg", aber auch kein Stichkampf bei Unentschieden?!Zur letzten,10. Partie meint der "Doc" in einer Zusammenfassung:"Die Urheber dieser Darstellungen verzeichnen den Partieverlauf (Dr. Hübner bezieht sich auf Kommentare zum Ablauf und Ausgang der 10. Partie.).Es wird verkannt, daß Schlechter nach der Eröffnung völlig verloren war, daß er zu keinem Zeitpunkt auf Gewinn stand und daß er nie auf einfache Weise remis erzwingen konnte."

Beitrag von Kiffing

Danke, zugzwang, für Deine profunden und wohlüberlegten Analysen! :)Rubinsteins Überspannungen lassen sich aus seiner Kindheit herleiten. Wenn regelmäßig ein Geschwisterkind stirbt und einen der Tod jederzeit selber treffen kann, wie geht so ein Kind damit um? Diese Ungewißheit und dieses permanente Bedrohungsgefühl, das Rubinstein vor jedem kleinen Geräusch zurückschrecken ließ, haben wohl in diesem Trauma ihre Wurzel. Aber gut, das ändert natürlich nichts an dem Sachverhalt. Man sollte sich aber schon vor Augen führen, was es für ein Kind bedeuten kann, wenn von 13 Geschwistern 12 sterben. Tartakower hatte übrigens ein ähnlich schlimmes Schicksal zu verarbeiten. Seine jüdischen Eltern wurden von einem rasenden Mob erschlagen, und mit 12 Jahren mußte er sich ganz alleine durchschlagen.Wegen des Kampfes Lasker-Schlechter 1910, der übrigens viele Parallelen zu dem Kampf Botwinnik-Bronstein 1950 aufweist, so weisen tatsächlich zahlreiche Indizien darauf hin, daß dieser skandalöse Passus in Wirklichkeit gar nicht existierte. Danke, daß Du einen klaren Grund für diese „Legendenbildung“ eingeführt hast, den ich so verstanden habe, daß dieser 2-Punkte-Vorsprung nur für die ursprüngliche Idee gelte, den Wettkampf auf 30 Spiele anzusetzen (was aber auch nicht ok ist). Aber es gibt natürlich auch nach wie vor die anderen Stimmen, die trotz der von Hübner eingebrachten Quellen, die ja auch schon mehr als 100 Jahre alt sind, das Gegenteil verlauten lassen. Hier erstmal zur besprochenen [URL="http://www.schachburg.de/threads/760-Geheimnisse-um-die-Schach-WM-1910"]Partie[/URL]:Treppner und Pfleger meinen dazu:[QUOTE]Leider gibt es keine völlige Klarheit, was die schachlichen Bedingungen anbelangt. Aber am plausibelsten klingt (auch im Hinblick auf die später erwähnte ominöse letzte Partie), was einige Quellen berichten: nämlich daß Schlechter nur, wenn er mit zwei Punkten Vorsprung das Treffen gewann, als Sieger gelten sollte (eine ähnliche Forderung stellte Lasker auch gegenüber Capablanca). Es wäre fast absurd, wenn Schlechter sich bei so wenigen Partien darauf wirklich eingelassen hätte, aber ganz auszuschließen ist es natürlich nicht[/QUOTE]Treppner/Pfleger, Brett vorm Kopf, Leben und Züge der Schachweltmeister, Beck´sche Reihe 1994, S. 94 f.Die beiden Autoren setzen fort mit der von mir im verlinkten Thread zur Partie eingebrachten Hypothese:[QUOTE]Schlechters herausragender Charakterzug war eine immer gleichmütige Bescheidenheit. Das wirkte sich unmittelbar auf seine Spielweise aus. Strategisch hervorragend, besaß er entgegen verbreiteter Meinung auch Kombinationstalent; jedoch ging er fast nie aus sich heraus. Dafür ließ er sich allerdings auch durch nichts erschüttern. Ob er gewann oder verlor, angriff oder verteidigte, schön oder trocken spielte, sein Seelenzustand schien immer derselbe. Viele Partien machte er Remis. Trotz aller Erfolge erhob er nie auf etwas Anspruch. Derselbe Wesenszug wurde ihm im Krieg zum Verhängnis. Er fand sich mit Hunger und zu vielen Entbehrungen widerstandslos ab, bis er bereits 1918 mit nur 44 Jahren starb[/QUOTE]Carl Schlechter erinnert mich sehr stark an einen der vielen Charaktere Franz Kafkas, die fatalistisch ihr Schicksal ertragen. Man fühlt sich unweigerlich an das Verhör im Hotel des jungen Karl Roßmanns erinnert. Sterbe Du, und es wird gestorben...Demgegenüber steht freilich die Behauptung in der [URL="http://schachblaetter.de/ein-nobler-geist-zu-carl-schlechter/19-11-2005/"]folgenden Quelle[/URL], daß Lasker Schlechter nach dem Match angeboten habe, bis zur Entscheidung weiterzuspielen. Das würde wohl nur passen, wenn Schlechter gerade seinen WM-Titel um einen halben, nicht aber um volle zwei Punkte verfehlt habe.Noch ein paar Überlegungen zu Kasparov, der ja ein Anhänger des 2-Punkte-Vorspung-Passus´ ist. Garri Kasparov, das historisch interessierte Schachgenie mit dem perfekten Gedächtnis, das keine Information vergißt, würde wohl jeden auf der Welt in einem schachlichen Detail über den Tisch ziehen, wenn er sich alleine darauf konzentrieren könne. Seine Informationen stammen aber aus seiner voluminösen Vorkämpfer-Reihe, wo Kasparov in relativ kurzer Zeit ein Monumentalwerk geschaffen hat. Auch wenn man annehmen kann, daß Kasparov dabei viele Helfer zur Verfügung standen, verlangt solch eine Herkulesarbeit einem doch eine ungeheure Kraft ab, und wenn man sich um möglicherweise tausende mehr oder weniger wichtige Detailfragen kümmern muß, dann gibt es mal hier und mal da eine Ungenauigkeit, eine Schwachstelle und auch da mal einen Irrtum. Das geht jedem Menschen so, der in kurzer Zeit solch ein gewaltiges Werk schafft, und auch ein Kasparov ist ein Normalsterblicher. Das würde zumindest Kasparovs Aussage ein wenig relativieren, wobei es interessant wäre zu erfahren, wie er auf den Einwand von Stolze und Hager reagiert.Aber gut, man merkt meinen Überlegungen vielleicht an, daß ich mich aufgrund des widersprüchlichen Materials noch nicht festlegen kann. Aber ich tendiere doch jetzt schon mehr zu der These hin, daß der 2-Punkte-Vorsprung in dem konkreten 10-Partien-Match nicht existiert hat.

Beitrag von blunder1

Da mich das Thema sehr interessiert und User ermutigt werden, auch auf ältere Threads einzugehen, erlaube ich mir genau das.Ich habe mehrere Bücher über Rubinstein, meine Hauptquelle ist seine doppelbändige Biographie von IM Donaldson und IM Minev The Life & Games Of Akiva Rubinstein (2. Ausgabe 2018), aber auch Werke von Kmoch, Wenz und GM Franco ziehe ich hinzu.Was den Wettkampf 1910 Lasker-Schlechter angeht, beziehe ich mich hauptsächlich auf Hübners Buch über den Wettkampf Steinitz-Lasker 1894, das auch ausführlich auf das Match gegen Schlechter eingeht.[QUOTE=Kiffing;17278]Rubinsteins Überspannungen[/QUOTE]Leider geht es weit darüber hinaus: Rubinstein litt mit fortschreitendem Alter immer mehr an Depressionen; erste (bekannte) Anzeichen traten schon 1912 auf.Seine Nervenschwäche zog sich nicht durch seine gesamte Karriere.Vor dem ersten Weltkrieg war Rubinstein eigentlich sehr stabil und schnitt gleichmäβig von hervorragend bis zumindest gut ab: Wettkämpfe (z.B. 1908 gegen Teichmann und Marshall) gewann er, in Turnieren erreichte er von dem Hauptturnier Barmen 1905 bis zu seiner Siegesserie 1912 immer mindestens den 4. Platz, in der Regel besser.Seine einzige Enttäuschung vor dem Weltkrieg war St. Petersburg 1914, als er nur 50% der Punkte in der Vorrunde holte und sich somit nicht unter den ersten fünf platzieren konnte, die sich für die Endrunde qualifizierten.Doch selbst da zeigte er Entschlossenheit: Die Vorrunde war nur kurz (11 Spieler, 10 Partien) und nach einem enttäuschenden Start (Remis aus einer viel besseren Stellung gegen Capablanca und – vermeidbare - Niederlagen gegen Lasker und Aljechin) erzielte er im späteren Turnier noch zwei Siege, konnte aber das Defizit trotz groβer Anstrengungen - lange, ausgekämpfte Partien - nicht mehr wettmachen.[QUOTE=Kiffing;17278]Aber ich tendiere doch jetzt schon mehr zu der These hin, daß der 2-Punkte-Vorsprung in dem konkreten 10-Partien-Match nicht existiert hat.[/QUOTE]Was den Wettkampf Lasker-Schlechter angeht, so hat das zugzwang in #6 gut wiedergegeben: Es sieht alles danach aus, dass die 2-Punkte-Klausel für beide Spieler galt, bei einem Match, das ursprünglich auf 30 Partien angesetzt war.Da nicht genügend Sponsoren zu finden waren (trotz Laskers Spendenaufruf), wurden nur 10 Partien bestritten. Hübner argumentiert überzeugend und mit seiner typischen Gründlichkeit (alleine für die 10. Partie gibt er 27[!] Quellen an), dass Lasker in diesem Kontext – ohne Klausel - die letzte Partie unbedingt gewinnen musste, um seinen Titel zu verteidigen.Auch der Partieverlauf weist in diese Richtung. Lasker zeichnete sich normalerweise durch Kaltblütigkeit aus (auch in kritischen Situationen), doch da hat er den Kopf verloren: Schlechter misslingt die Eröffnung vollständig und Lasker steht sofort auf Gewinn, doch anstatt ruhig seinen entscheidenden Vorteil zu verwerten, verschärft er mit 15.g4? die Stellung unnötig, was zu einer wilden Partie mit beiderseitigen Chancen führt.Das Beste zum Schluss:Passenderweise hat Kiffing in #2 Kasparow aus Meine groβen Vorkämpfer zitiert.[QUOTE=Kiffing;17278]Daß es am Ende nicht zu einem WM-Kampf Lasker gegen Rubinstein kam, der zweifelsohne ungeheuer interessant gewesen wäre, lag auch laut Kasparov ein bißchen an Rubinstein selbst: [/QUOTE]Kasparow:Es bleibt unklar, ob es an dem nahenden Ersten Weltkrieg lag, oder ob Rubinstein doch einfach der Mut fehlte fehlte – jedenfalls konnte er sich letztendlich nicht dazu durchringen, den Champion offiziell zu fordern. Er war ein ruhiger und bescheidener und sehr zurückgezogen lebender Mensch, der vor allem nicht pragmatisch handeln konnte, wie es aber in gewissen Situationen nun einmal unerläßlich istIch bin einfach nur sprachlos!Das war mir davor gar nicht aufgefallen; na ja, die Reihe, die ich selber besitze, ist schon sehr kritisiert worden, nicht nur weil Kasparow kaum etwas selber geschrieben haben soll und ständig fremde Analysen benutzt werden.Der WM-Wettkampf Lasker-Rubinstein war in trockenen Tüchern und hätte im Herbst 1914 stattgefunden, wenn der 1. Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre.Donaldson und Minev beschreiben in ihrer Rubinstein-Biographie (Volume 1: Uncrowned King) nicht nur genau die Verhandlungen 1913/14, welche in zeitgenössischen Medien veröffentlicht wurden; die Autoren beziehen sich auf (und zitieren auch ausführlich) American Chess Bulletin, New York Evening Post (inklusive einer Kolumne von Lasker vom 13.9.1913) und Philadelphia Inquirer.Donaldson und Minev drucken auch den gesamten Vertrag ab, der das Match regelte.Auszugsweise: Alles ist genau geregelt: die Regeln, die Finanzen, das geplante Wettkampfbuch und seine Vermarktung.Der Wettkampf hätte, wie damals üblich, an mehreren Orten stattgefunden, je nach Sponsorenbeteiligung. In den USA bestand groβes Interesse.Rubinstein hätte Lasker nicht herausgefordert? Was ist da wieder in Meine groβen Vorkämpfer zu lesen...Die sowjetische Geschichtsschreibung genoss einen miserablen Ruf und auch die heutige russische gilt nicht als gut; die Verfälschungen (+ schlechte Recherche) über Jahrzehnte hinweg haben Spuren hinterlassen.Mit Schachgeschichte sieht es kaum besser aus.Wie wäre der Wettkampf ausgegangen? Ich kann nur spekulieren:Bei einem gesunden Rubinstein (und es sah vor dem 1. Weltkrieg alles in allem noch recht gut aus) hätte es ein groβartiges Match gegeben; ich hätte schon Tendenz, Lasker zu favorisieren, doch Rubinstein stellte eine groβe Herausforderung dar und hätte echte Chancen gehabt, Weltmeister zu werden. Was die eigentliche Themenfrage angeht, so glaube ich nicht, das man Rubinstein als den besten Spieler seiner Zeit bezeichnen kann, aber zumindest in der Zeit von 1907-14 gehörte er auf jeden Fall zu den allerstärksten und hatte Weltmeisterpotenzial. Auch Lasker lobt sein Spiel in seinem Turnierbuch St. Petersburg 1909 in höchsten Tönen.

Beitrag von blunder1

Da der Thread mit GM Mihail Marin (Von den Legenden lernen) beginnt, möchte ich noch etwas hinzufügen.Ich halte Marin – insgesamt gesehen – für einen sehr guten Schachbuchautoren und habe das Buch auch (auf Englisch, 10-jährige Jubiläumsausgabe); ich kann es nur empfehlen.Nur glaube ich, dass er diesbezüglich nicht seine Hausaufgaben gemacht hat.[QUOTE=sorim;17234] Sehr zu Akibas Verdruss war jedoch Emanuel Lasker in den Vorkriegsjahren im Besitz des Weltmeistertitels. Lasker war nicht nur ein sehr starker Spieler, sondern er verstand es auch, aus seinem Recht, den Herausforderer zu bestimmen, vollen Nutzen zu ziehen. So zwang er beispielsweise Schlechter dazu, ein Match unter skandalös ungerechten Bedingungen zu spielen (obwohl erwähnt werden sollte, dass er seinen Titel trotzdem nur mit einer gehörigen Portion Glück behielt). Von daher verwundert es kaum, dass er 27 Jahre auf dem Schachthron residieren konnte.Auch wenn es nicht viele historischen Belege dafür gibt, so können wir doch vermuten, dass Lasker alles daran setzte, das offensichtlich unvermeidliche Match gegen Rubinstein hinauszuzögern.[/QUOTE]Er hat nicht gründlich recherchiert und alte Mythen kritiklos übernommen.Nichts deutet darauf hin, dass es bei dem Wettkampf Lasker-Schlechter, der sich über nur 10 Partien erstreckte, diese 2-Punkte-Klausel gab; daher gab es auch keine “skandalös ungerechten Bedingungen”. Wenn Schlechter die 10. Partie gehalten hätte - was nicht einfach, aber möglich gewesen wäre – wäre er Weltmeister geworden.Lasker hat einen WM-Wettkampf mit Rubinstein auch nicht verhindert, ganz im Gegenteil:Man sollte nicht vergessen, dass die Finanzierung eines WM-Matchs damals eine schwierige und zeitaufwändige Angelegenheit war; die Spieler mussten erst einmal Sponsoren finden. Dabei hat Lasker – der Weltmeister, nicht der Herausforderer – selber aktiv mitgewirkt. Andere Weltmeister, wie Capablanca (1922 “Londoner Abkommen”, u.a. der Herausforderer muss 10.000 Dollar Preisfonds aufbringen) oder besonders Aljechin, der von Capablanca 10.000 Dollar in Gold - damals umgerechnet 18.000 “normale” Dollar - verlangte, haben echte Hürden aufgebaut, um ihre Weltmeistertitel zu schützen.Nach seinem Erfolg in St. Petersburg 1909 und vor allem seiner Siegesserie 1912 stand Rubinstein als der offensichtliche Anwärter fest. Hier war endlich ein Spieler erschienen, der Lasker wirklich gefährden konnte, dessen Dominanz über viele Jahre hinweg erdrückend gewesen war. Die damalige Schachwelt sehnte den Wettkampf herbei.In Anbetracht der damals gängigen Schwierigkeiten bei der Sponsorensuche ist die Übereinkunft zwischen Lasker und Rubinstein eigentlich schnell erfolgt und nur der Ausbruch des 1. Weltkriegs hat diesen Wettkampf verhindert.Ich gebe gerne zu, dass ich Lasker-Fan bin, aber ich bin auch Rubinstein-Fan; in seinen besten Zeiten spielte er einfach nur traumhaftes Schach. Der 1. Weltkrieg hat nicht nur die damalige Welt in den Abgrund gestürzt, er hat auch einen WM-Wettkampf verhindert, der selbst heute noch legendär sein könnte.