Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Auch eine Form von Wachablösung“

schachburg.de

Beitrag von Kiffing

Der erfahrene Weltmeister Vishy Anand steht bekanntlich vor seiner schwersten Prüfung. Im November gibt es keine Gnade mehr. Da muß er zeigen, ob er dem jungen Himmelsstürmer Magnus Carlsen, der auch schon in der Elo-Weltrangliste alle anderen Spieler weit hinter sich gelassen hat, noch etwas entgegensetzen kann. Schafft er dies nicht, beginnt eine neue Epoche, die Anand nicht mehr als Weltmeister, sondern nur noch als „normaler Super-GM“ beeinflussen kann.Um den Respekt vor diesem so unglaublich verdienstvollen und charismatischen Spieler, der schon seit mehr als 20 Jahren zu der absoluten Weltspitze zählt und im Zeitalter zwischen Kasparov und Carlsen einer der großen Diadochen war, zu wahren, sei hier eine wirklich bemerkenswerte Partie von Anand vorgestellt, in der er mit niemand geringerem als mit Anatoli Karpov kurzen Prozeß macht:In einem angenommenen Damengambit wählt Anand mit 4. e4 die forschere Variante (Alternative ist das ruhige 4. e3). Nach unterhaltsamem Geplänkel im frühen Mittelspiel kommt Anand im 21. Zug zu einer taktischen Chance, die er sich nicht entgehen läßt. Das Läuferopfer auf h7 ist natürlich Standard, aber die Verbindung dieses typischen Motivs mit dem Turmlift macht dieses Manöver wirklich sehenswert. Der schwarze König kann über f7 zwar noch fliehen, ist aber auch im Zentrum angesichts der zahlreichen geöffneten Linien nicht wirklich sicher. Angesichts zweier gefährlicher weißer Freibauern verliert Karpov die Nerven und die Partie. Auch dieses Match war eine Form von Wachablösung. [Event "Las Palmas"][Site "Las Palmas, Canary Islands ESP"][Date "1996.12.17"][EventDate "1996.12.09"][Round "7"][Result "1-0"][White "Viswanathan Anand"][Black "Anatoly Karpov"][ECO "D21"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "72"]1. Nf3 d5 2. d4 e6 3. c4 dxc4 4. e4 b5 5. a4 c6 6. axb5 cxb57. b3 Bb7 8. bxc4 Bxe4 9. cxb5 Nf6 10. Be2 Be7 11. O-O O-O12. Nc3 Bb7 13. Ne5 a6 14. Bf3 Nd5 15. Nxd5 exd5 16. Rb1 Qb617. Be2 axb5 18. Rxb5 Qc7 19. Bf4 Bd6 20. Bd3 Ba6 21. Bxh7+Kxh7 22. Qh5+ Kg8 23. Rb3 Bxe5 24. Rh3 f6 25. dxe5 Qe726. Qh7+ Kf7 27. Rg3 Ke8 28. Rxg7 Qe6 29. exf6 Nc6 30. Ra1 Kd831. h4 Bb7 32. Rc1 Ba6 33. Ra1 Bb7 34. Rd1 Ba6 35. Qb1 Rxf636. Bg5 { Black lost on time } 1-0

Beitrag von hako

kurioses Läuferopfer :) :top:Mit wie viel Bedenkzeit für die Partie gespielt?Die Eröffnungsvariante mit 4.e4 b5 ist interessant. Was passiert eigentlich, wenn Weiß direkt mit 5.b3 kontert. Nach 5. .. cxb3 6.Bxb5+ Bd7 7.Qxb3 sieht die Stellung von Weiß angenehmer zu spielen aus. vllt +/= :denknach:

Beitrag von Kiffing

Ein direktes 5. b3? wäre ein schwerer Eröffnungsfehler. Vergleiche dazu bitte die folgenden Varianten:5. b3? Lb4+ 6. Ld2 Lxd2+ 7. Sbxd2 c3! und Weiß steht schon unter Druck5. a4 c6 6. axb5 cxb5 7. b3 Lb4+ 8. Ld2 Lxd2+ 9. Sbxd2 +/-Wie Du siehst, geht in der 2. Variante das unangenehme ...c3 nicht, weil dann der Bb5, und auch noch mit Schach, hängt. Abgesehen davon steht hier im Gegensatz zur 1. Variante die offene a-Linie zu Buche. Also immer erst a4 und axb5 vor b3 zwischenschalten. :oberlehrer:Übrigens: Garri Kasparov hat diese Eröffnungsidee mit Schwarz ebenfalls mal angewendet, und wie ihr seht, erfolgreicher als sein einstiger Rivale![Event "XXII Torneo Ciudad de Linares"][Site "Linares ESP"][Date "2005.02.25"][EventDate "2005.02.23"][Round "3"][Result "0-1"][White "Francisco Vallejo-Pons"][Black "Garry Kasparov"][ECO "D21"][WhiteElo "2686"][BlackElo "2804"][PlyCount "58"]1. Nf3 d5 2. d4 e6 3. c4 dxc4 4. e4 b5 5. a4 c6 6. axb5 cxb57. b3 Bb7 8. bxc4 Bxe4 9. cxb5 Nf6 10. Be2 Be7 11. O-O O-O12. Nc3 Bb7 13. Bf4 Bb4 14. Na4 Nbd7 15. Qb3 Nd5 16. Bg5 Be717. Bd2 a6 18. b6 Bc6 19. Ne5 Nxe5 20. dxe5 Nxb6 21. Nxb6 Qxd222. Nxa8 Qxe2 23. Nc7 Qxe5 24. Qg3 Qf5 25. Rxa6 Be4 26. Ra7Bc5 27. Ra5 Bxf2+ 28. Qxf2 Qxa5 29. Nxe6 Bxg2 0-1Mehr zur Partie:[url]http://www.freechess.info/index.php?option=com_content&view=article&id=427:the-queens-gambit&catid=55&Itemid=109[/url]Kommentierung: [url]http://www.chessib.com/valkas5.html[/url]

Beitrag von hako

[QUOTE=Kiffing;20083]5. b3? Lb4+ 6. Ld2 Lxd2+ 7. Sbxd2 c3! und Weiß steht schon unter Druck[/QUOTE]Ja ok, das mit 7.Nbxd2 c3 ist nicht so gut... :rolleyes2:Wesentlich besser sieht 7.Qxd2 aus (verhindert 7. .. c3) mit der möglichen Fortsetzung 7. .. Nf6 8.Nc3 cxb3 9.axb3 Bb7, wobei mir hier die schwarze Stellung ein wenig besser gefällt.

Beitrag von Kiffing

Auf 7. Dxd2 kommt 7. ...Lb7. Nach 8. De3 cxb3 9. axb3 a6 hat Weiß durchaus Entwicklungsvorteil. Der Lb7 dagegen wirkt von hinten in die Stellung hinein. Ich persönlich sehe nicht, wie der Bauer vollständig kompensiert werden kann. Aber vielleicht kann hier noch jemand Ideen für das weiße Spiel entwickeln. Aber damit hast Du auf jeden Fall Recht, daß 7. Dxd2 gegenüber 7. Sxd2 eine Verbesserung ist.

Beitrag von zugzwang

Eine inzwischen klassische Partie mit einer interessanten Kampferöffnung.Vishy spielte ja selbst eine gewisse Zeit QGA neben Slawisch, während Tolya der große Interpret des QGD in Tartakower-Form ist.Anand beschreibt in NIC 1-1997 seine Eindrücke zur Partie.Er prüfte kurz 21. Txd5 mit Mehrbauern und wandte sich dann 21. Lxh7 zu.Er gesteht nach einigen Minuten Analyse zu aufgeregt gewesen zu sein, um alles sauber durchzugehen. Da Karpov bereits in seiner damals schon üblichenZeitnot war, schlug er zu.Dieses Läuferopfer ist beileibe nicht Standard, wie auch die Varianten zu 23. ... Le5? zeigen. Anspruchsvoller und hartnäckiger waren 23. ... f6! und 23. ... Lc8, was Anand befürchtete (23. ... Lc8!?, 24. Tg3 (Karpov dachte, dieser Zug gewinnt) De7 (Verteidigungsvorschlag Anand), 25. Lh6!! (spätere Gewinnanalyse Dzindzi).In diesem Turnier spielte Vishy in der 3. Runde genau an seinem Geburtstag eine weitere sensationelle Partie, die inzwischen auch legendär ist:[Event "Las Palmas"][Site "Las Palmas, Canary Islands ESP"][Date "1996.12.11"][EventDate "1996.12.09"][Round "3"][Result "1-0"][White "Viswanathan Anand"][Black "Vassily Ivanchuk"][ECO "C78"]1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bb5 a6 4.Ba4 Nf6 5.O-O Bc5 6.Nxe5 Nxe57.d4 Nxe4 8.Re1 Be7 9.Rxe4 Ng6 10.c4 O-O 11.Nc3 d6 12.Nd5 Bh413.Qh5 c6 14.Rxh4 Qxh4 15.Qxh4 Nxh4 16.Nb6 Rb8 17.Bf4 Nf518.d5 Re8 19.Kf1 h6 20.h3 Re4 21.Bh2 cxd5 22.g4 Rxc4 23.Nxc4dxc4 24.Re1 Be6 25.gxf5 Bxf5 26.Bxd6 Bxh3+ 27.Kg1 Rd8 28.Re8+Rxe8 29.Bxe8 Be6 30.a4 g5 31.a5 Kg7 32.Ba4 Kg6 33.Bd1 Bd534.Bc2+ Kf6 35.Bc7 Ke6 36.Bh7 Bf3 37.Kh2 Kd5 38.Bc2 Be4 39.Bd1Kd4 40.Be2 Bd3 41.Bb6+ Kd5 42.Bd1 f5 43.Kg3 Ke5 44.Bc5 Kf645.Bh5 f4 46.Kh2 1-0 Das Turnier selbst gewann aber mal wieder der "Chef" dieser Epoche (6,5/10) vor Vishy (5,5/10), der gegen Topa verlor.

Beitrag von Kiffing

Danke für die näheren Erläuterungen zu dieser Partie, zugzwang. Es ist interessant, die näheren Umstände zu einer Partie zu erfahren, was die Helden bei den kritischen Momenten gedacht haben usw. Garri Kasparov z. B. macht das gut. In seiner Vorkämpfer-Reihe kommen zu den bemerkenswerten Partien immer auch die Spieler selbst zu Wort.Bei Deiner Partie gefällt mir das Qualitätsopfer im 14. Zug sehr gut. Eine Rechtfertigung ist, daß Anand nun auf den schwarzen Feldern total dominiert, und eine andere, daß sich Anand den schwarzen Entwicklungsnachteil zunutze macht. Und auch später hatte Anand in diesen nach dem Opfer entstandenen schwierigen und rechenintensiven Strukturen immer der Durchblick. Das zeichnet einen großen Spieler aus, während normale Amateurspieler in solchen Momenten regelmäßig patzen und es für gewöhnlich ein Fehlerfestival gibt. Was die Themen Anand und Qualitätsopfer angeht, so hat Anand selbst gegen den „Chef dieser Epoche“ einmal ein tolles Qualitätsopfer angebracht. Diese Partie ist in der Schachwelt bekannt, aber trotzdem gerne noch einmal:[Event "Ch World (match) (PCA)"][Site "New York (USA)"][Date "1995.01.10"][EventDate "?"][Round "9"][Result "1-0"][White "Viswanathan Anand"][Black "Garry Kasparov"][ECO "B84"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "69"]1.e4 c5 2.Nf3 d6 3.d4 cxd4 4.Nxd4 Nf6 5.Nc3 a6 6.Be2 e6 7.O-OBe7 8.a4 Nc6 9.Be3 O-O 10.f4 Qc7 11.Kh1 Re8 12.Bf3 Bd7 13.Nb3Na5 14.Nxa5 Qxa5 15.Qd3 Rad8 16.Rfd1 Bc6 17.b4 Qc7 18.b5 Bd719.Rab1 axb5 20.Nxb5 Bxb5 21.Qxb5 Ra8 22.c4 e5 23.Bb6 Qc824.fxe5 dxe5 25.a5 Bf8 26.h3 Qe6 27.Rd5 Nxd5 28.exd5 Qg6 29.c5e4 30.Be2 Re5 31.Qd7 Rg5 32.Rg1 e3 33.d6 Rg3 34.Qxb7 Qe635.Kh2 1-0Es war bei der PCA-WM 1995 auf dem WTC die erste entschiedene Partie überhaupt in diesem Finale. Fairerweise muß man allerdings anmerken, daß Anand dann leider durchgereicht wurde. Und überhaupt konnte Kasparov den Inder immer auf Distanz halten. Die [URL="http://www.chessgames.com/perl/chess.pl?pid=12088&pid2=15940"]Matchstatistik[/URL] fällt klar zugunsten von Kasparov aus mit 16 Siegen gegenüber 5 Niederlagen bei 31 Remis. Das ist eben der Unterschied eines Kaisers gegenüber einem Diadochen. :zerknirscht: