Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Wie reagierten die Menschen auf den Schachtürken?“

schachburg.de

Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/1LaqImd.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/1LaqImd.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Stellt euch vor, wir haben 1769, es wurde ein Schachcomputer erfunden, und die Menschen werden damit konfrontiert. Das klingt in etwa so utopisch als wenn man sich vorstellen müßte, ein Flugzeug würde auf einmal über den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges erscheinen. Und es wäre sicher interessant zu sehen, wie die Menschen wohl auf solch eine unerhörte Begebenheit reagiert hätten. Doch das erste ist tatsächlich mehr oder weniger geschehen, und in diesem Thread kann ich euch auch sagen, was die zeitgenössischen Reaktionen darauf waren!Wir haben also 1769, und ein Schachcomputer erschien den Menschen. Zumindest wurde es ihnen so dargestellt. Denn als der Österreicher Baron von Kempelen diese Maschine baute, versuchte er, den Menschen glaubhaft zu machen, diese Maschine könne von selbst Schach spielen. Zu diesem Zweck ließ er diese Maschine nur von kleinwüchsigen Meistern bedienen, die im Innenraum des Schachtürken gut versteckt waren, so daß er den Zuschauern die Maschine öffnen konnte als „Beweis“, daß niemand in der Maschine säße und diese bediene. Und tatsächlich wurde auch niemals einer dieser schachspielenden Meister in der Maschine entdeckt.Wie gingen die Zeitgenossen also mit dieser vermeintlichen Tatsache um, diese Apparatur spiele von selbst Schach? Dafür hat der Schachhistoriker Edmund Bruns in seinem Werk Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zeitgenössische Quellen gesammelt, die ich euch nicht vorenthalten möchte.So versuchte der US-amerikanische Schriftsteller Edgar Allan das Phänomen der Maschine zu ergründen:[QUOTE]Ist das Prinzip erst einmal entdeckt, nach welchem man eine Maschine dazu bringen kann, Schach zu spielen, so bedarf´s blos einer Erweiterung solchen Principes, sie das Spiel auch gewinnen, und einer neuerlichen Erweiterung, sie jedes Spiel gewinnen zu lassen, will sagen, sie in den Stand zu setzen, jedweden Gegen-Spieler zu schlagen [/QUOTE]Skeptisch dagegen äußerte sich sein Zeitgenosse Robert Willis, der die Unmöglichkeit einer schachspielenden Maschine logisch nachzuweisen versuchte:[QUOTE]Die Maschine kann ohne menschliche Mitwirkung gar nicht funktionieren, denn, einerlei wie erstaunlich die Leistung der zeitgenössischen Automatenbauer sein mögen, beim Schach tritt eine neue Dimension hinzu, eine, die prinzipiell von keiner vorstellbaren Mechanik der Welt zu bewältigen ist. Die Anzahl der nicht vorhersehbaren Situationen, die beim Schachspiel entstehen können, ist dermaßen groß, daß sie bei weitem die Leistungsgrenze einer bloßen Maschine übersteigt. Dieses zu bewältigen ist allein dem menschlichen Geist vorbehalten, und eine Maschine kann unmöglich beanspruchen, dessen Fähigkeiten auf bloß mechanischem Wege nachvollziehen zu können[/QUOTE]Trotzdem haben laut Bruns (S. 300) sehr viele Menschen Kempelen abgenommen, eine schachspielende Maschine erbaut zu haben.

Beitrag von sorim

Zu der Zeit wussten die (meisten) Leute nicht wie kompliziert es ist ein Schachprogramm zu erstellen. Will man durch pure Rechenkraft weiterkommen braucht man schon elektronische Computer mit der heutigen Leistung, mechanisch ist da absolut nichts zu machen.Für die war es nur wichtig das der Roboter möglichst wie ein Mensch ausgesehen hat und sich bewegt hat :-)

Beitrag von hako

Wäre interessant zu wissen, wie Quantencomputer das Problem Schach bearbeiten würden.... :cool:Ich würde nicht sagen, dass die Menschen nicht wussten, wie schwierig es ist Fritz zu schreiben. Ich glaube eher, dass die Menschen damals noch nicht wussten, wie schwierig Schach überhaupt ist. Man betrachte die ganzen Theorien, Faustregeln und Motive im Schach, die wir heute haben und es damals noch nicht gab.

Beitrag von Kiffing

[QUOTE=Kiffing;16677]Trotzdem haben laut Bruns (S. 300) sehr viele Menschen Kempelen abgenommen, eine schachspielende Maschine erbaut zu haben.[/QUOTE]Und in der Tat. Laut dem Schachhistoriker Ernst Strouhal schluckten die meisten Menschen diesen raffinierten Bluff. Im Zeitalter des Triumphes von Vernunft und Wissenschaft schien nichts mehr unmöglich: [QUOTE]Die Kritik, so Ernst Strouhal, war sich nach der Vorstellung einig, eine technische Sensation gesehen zu haben. [Vgl. ebda., S. 458f.] Für eine kurze historische Zeit schien vieles, sogar die denkende Maschine möglich zu sein. Zugleich muß wohl auch eine gewisse Angstlust geherrscht haben, wie auch wir sie gegenüber der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz empfinden. Strouhal spricht hier vom Schach spielenden Golem, jenem Geschöpf, das aufgrund seiner Unausgereiftheit zur Gefahr für seinen Erzeuger wird.[/QUOTE]Allerdings wandelte sich das Verhalten der Zeitgenossen mit der Zeit. Später kamen skeptische bis kritische Stimmen auf, und dem Baron von Kempelen, den wir heute aus einer entspannten Zeitdifferenz heraus wohl eher uneingeschränkt positiv sehen, wurde durchaus mit Empörung Betrug und Scharlatanerie vorgeworfen.In diesem Sinne möchte ich euch eine sehr gute Quelle geben, wo das Phänomen des Schachtürken, aber auch die Reaktion der Zeitgenossen darauf, die ja hier das Threadthema ist, in vorzüglichster Weise ausführlich behandelt ist: [url]http://www.chess.at/geschichte/kempelen.htm[/url]

Beitrag von AIL

Unwissende und unkritische Menschen sind sehr leicht durch Behauptungen zu blenden. Auch Unmögliches wird geglaubt, wenn man es nur oft genug wiederholt bekommt oder vermeintlich mit eigenen Augen gesehen hat.Das war damals so und ist heute noch genauso.

Beitrag von zugzwang

Heutzutage kann man selbst wissende Menschen toll blenden.Das nennt sich Portschritt!:jaja: :P

Beitrag von zugzwang

Pfortschritt - natürlich!Wegen des breiteren Zugangs heutzutage.

Beitrag von Kiffing

Apparate waren jedenfalls die vorherrschende Technik in der damaligen Zeit, ungefähr vergleichbar mit der heutigen Elektronisierung und der zukünftigen [URL="http://www.schachburg.de/threads/1392-Quantencomputer-die-Schachcomputer-der-Zukunft"]Quantentechnologie[/URL]. Und möglicherweise hat der Schachautomat, der bewußt als Orientale gekleidet war, um das Phantastische dieser Figur zu illustrieren (Morgenland und Abendland waren sich damals noch ziemlich fremd, weswegen das jeweils andere noch unvergleichlich mehr als heutzutage als eine andere rätselhafte Welt wahrgenommen wurde), auch den schwarzen Romantiker E. T. A. Hoffmann in seinem Nachtstück Der Sandmann inspiriert. Dort verliebt sich die Hauptfigur, ein junger Student, gar in eine junge Frau, die, wie sich später herausstellt, nur ein Automat ist, der von seinem Schöpfer zusammengebaut worden ist. Der Schachtürke war weit über die Schachkreise hinaus bekannt und wurde in der damaligen Welt als Sensation aufgefaßt. Er war so populär, daß auch Napoleon gegen ihn spielen wollte, sich dabei aber [URL="http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1250610"]nicht mit Ruhm bekleckerte[/URL]. Auf den wirklichen Schlachtfeldern war er "besser". [Event "Schoenbrunn"][Site "Schoenbrunn"][Date "1809.??.??"][EventDate "?"][Round "?"][Result "0-1"][White "Napoleon Bonaparte"][Black "The Turk (Automaton)"][ECO "C20"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "48"]1. e4 {During this game, the Turk was operated by JohannAllgaier.} e5 2. Qf3 Nc6 3. Bc4 Nf6 4. Ne2 Bc5 5. a3 d6 6. O-OBg4 7. Qd3 Nh5 8. h3 Bxe2 9. Qxe2 Nf4 10. Qe1 Nd4 11. Bb3Nxh3+ 12. Kh2 Qh4 13. g3 Nf3+ 14. Kg2 Nxe1+ 15. Rxe1 Qg416. d3 Bxf2 17. Rh1 Qxg3+ 18. Kf1 Bd4 19. Ke2 Qg2+ 20. Kd1Qxh1+ 21. Kd2 Qg2+ 22. Ke1 Ng1 23. Nc3 Bxc3+ 24. bxc3 Qe2# 0-1

Beitrag von Kiffing

Hier ein Video über den Schachtürken, in dem u. a. die Mechanik und das Rezept erklärt werden, wie der Erfinder in diesem die Schachmeister so verstecken konnte, daß sie von der Menge niemals gesehen wurden, obwohl Kempelen den Schachtürken diesen vor dessen Veranstaltungen zu öffnen pflegte, um der Menge zu "beweisen", daß in ihm niemand drinsitzt, der die Figuren mechanisch in Bewegung setzt: [url]http://www.nzz.ch/video/serien/?firstChannelID=10[/url]

Beitrag von Kampfkeks

Einen lesenswerten Artikel zum Schachtürken findet man auch unter [url]http://www.focus.de/digital/diverses/technik-meisterwerk_aid_80962.html[/url]Die Täuschung wird dort folgendermaßen erklärt:"Tatsächlich steckte in dem 1,50 Meter breiten, 95 Zentimeter hohen und 90 Zentimeter tiefen Nussbaumholzkasten ein Mensch. „Von Kempelen engagierte ausgezeichnete Schachspieler, die fast alle das Geheimnis wahrten“, sagt Stolte. Dank einer beweglichen Trennwand rutschte der Steuermann der Maschine zwischen linker und rechter Kammer des Unterbaus hin und her und verbarg sich beim Öffnen vor den Blicken der Zuschauer. Das wäre nicht weiter spektakulär: „Darüber hinaus hat von Kempelen ein technisches Meisterwerk entworfen“, sagt Fromme."Dort heißt es auch:"Rund 70 Jahre rätselte die feine Gesellschaft Europas über das Geheimnis des damals berühmtesten Automaten der Welt. Der grimmig blickende Schachtürke mit Fes-Hut und orientalischer Kleidung schlug fast jeden Gegner. „Napoleon wollte ihn provozieren und machte blödsinnige Züge“, erläutert Museumssprecher Andreas Stolte. „Da stellte der Automat die Figuren zunächst wieder richtig hin. Als Napoleon wieder Täuschungsmanöver machte, fegte der Schachtürke die Figuren vom Tisch.“ Dem großen Feldherrn habe das imponiert."Möglicherweise erklärt das den etwas naiv anmutenden Versuch von Napoleon, gleich zu Beginn der obigen Partie (Beitrag #8) den Schachtürken mattsetzen zu wollen... Unabhängig davon find´ ich es aber ungeheuer faszinierend, Napoleon (!!!) beim Schachspielen "zugucken" zu können.

Beitrag von Kiffing

Zum Schachtürken gibt es mit "Der Schachautomat" von Robert Löhr auch einen Roman. Es ist eine packende Geschichte, in der sich der Autor einige dramaturgischen Freiheiten genommen hat. Die Reaktionen der Menschen auf den Schachtürken werden aber korrekt und ausführlich beschrieben, so auch die Stellungnahmen von Vertretern von Wissenschaft und Intelligenz, die sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt hatten. Robert Löhr hatte sich übrigens von der Figur der Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Sandmann inspirieren lassen, bei der es sich ebenfalls um einen Automaten mit verblüffend menschlichen Zügen handelte und was ebenfalls zu diversen Missverständnissen führte. Das 18. Jahrhundert stand ganz in Zeichen des Automaten, Automaten galten damals als futuristisch und wurden vielfach hergestellt, um die Menschen zu verblüffen und zu begeistert. In diesen Kontext war auch Kempelens Erfindung eingeordnet. Löhr leistet übrigens eine interessante Erklärung dafür, warum sich nahezu alle Menschen von dem Automaten blenden ließen: "Mundus vult decipi" (die Welt will betrogen werden). Die Menschen haben Kempelen also geglaubt, weil sie es glauben wollten.

Beitrag von Birliban

Schöner Tipp, danke. Die Piper Taschenbuchausgabe des historischen Romans "um den brillantesten Betrug des 18. Jahrhunderts", gibts zum Schnäppchenpreis auch noch bei medimops:[Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.medimops.de/robert-loehr-der-schachautomat-roman-um-den-brillantesten-betrug-des-18-jahrhunderts-taschenbuch-M03492248683.html". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://www.medimops.de/robert-loehr-de ... t=UsedGood" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.]