Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Was haltet ihr von einem dialektischen Schachstil?“

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Beitrag von Kiffing

Michail Botwinnik hat 1945 dem Chess Review ein in der Schachwelt vielbeachtetes Interview gegeben, indem er als einen wichtigen Baustein für den Erfolg der Sowjetischen Schachschule die Anwendung der Prinzipien des Dialektischen Materialismus (Diamat) auf das Schach selbst benannte. Edmund Bruns führt aus:[QUOTE]Ein solcher Stil, so Botwinnik, zeichne sich durch Flexibilität aus, die auf jede nur denkbare Situation zu reagieren vermöge. Diese Flexibilität bilde den Gegensatz zu den statischen kapitalistischen Konzeptionen, die entweder die Eröffnung, den Angriff, die Verteidigung oder das Endspiel überbetone [/QUOTE]Dr. Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Lit-Verlag 2003, S. 258f.Um diesen tiefgreifenden Gedanken zu verstehen, muß darauf hingewiesen werden, daß die Staatsdoktrin in der UdSSR der Materialismus gewesen ist, der auf dem Dialektischen Materialismus (Diamat) sowie dem Historischen Materialismus (Histomat) aufbaut. Diese Weltanschauung wurde durch Marx und Engels entwickelt.Während der Historische Materialismus die gesellschaftliche Entwicklung im Laufe ihrer Geschichte erklärt, ist der Dialektische Materialismus das Denkgebäude, das in der Gegenwart auf alle Probleme angewendet werden kann. Natürlich ist diese Weltanschauung sehr komplex, kann aber trotzdem gut zusammengefaßt werden: So entsteht eine Entwicklung auf Basis von Widersprüchen. Zu jedem Fall gibt es also eine These und eine Antithese, die nun zu einer Synthese, also durch Lösung der Widersprüche, geführt werden müsse. Dieser Prozeß ist dabei nicht beendet, sondern er ist ein ewiger Kreislauf. Denn jede neue Synthese bildet gleichzeitig wiederum eine These, zu der neue Widersprüche auftreten, d. h. neue Antithesen gebildet werden, die wiederum in einer Synthese aufgehen müssen usw. usf. Marx spricht hier von einem „Umschlagen von einer Quantität in eine neue Qualität“. Dies erklärt sowohl den hohen Grad an Analytik in der Sowjetischen Schachschule als auch ihr Augenmerk auf den konkret-schöpferischen Ansatz. Denn da jeder Zug für sich selbst ein neues Problem darstellt, müsse auf dieser Basis das Problem wissenschaftlich gelöst werden. Diese Betrachtungsweise schließt dabei, holistisch wie der Materialismus nun einmal ist, ein Überbetonen eines einzigen Elements im Schach aus. Zug für Zug und immer im Zusammenhang gedacht, müsse sich jeder Zug, der in der Beziehung zur gesamten Partie steht, in jedem konkreten Problemfeld durch die Anwendung des Dialektischen Materialismus behaupten. Dies erklärt auch die Ablehnung der Sowjetischen Schachschule gegenüber jeder Dogmatik, da der Dialektische Materialismus alles andere als ein starres und abgeschlossenes System darstellt, sondern eine durchaus flexible und dynamische immerwährende Weiterentwicklung. Was haltet ihr von diesem Gedankengang. Haltet ihr den „dialektischen Schachstil“ für eine Chimäre oder durchaus für einen fruchtbringenden Ansatz zur Weiterentwicklung der eigenen Stärke und des Schachverständnisses?

Beitrag von Kampfkeks

Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet es, dass bei jedem Zug die Stellung komplett unvoreingenommen betrachtet werden muß, dh ohne Rücksicht auf früher gefaßte Pläne.Sollte das so sein (bin nicht sicher, ob ich´s richtig verstanden habe), dann klingt das nach einer guten Idee. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass jede Stellung neu bewertet werden muß. Auf der anderen Seite macht man sich das Leben einfacher, wenn man schon einen groben Plan im Kopf hat und eine ungefähre Vorstellung davon hat, was man in den nächsten paar Zügen erreichen will. Vom Zeit- und Spaßfaktor mal ganz abgesehen.ps Ich habe mit "keine Meinung" gestimmt, weil ich nicht sicher bin, ob ich´s richtig verstanden habe. :zerknirscht:

Beitrag von Kiffing

[QUOTE=Kampfkeks;20809]Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet es, dass bei jedem Zug die Stellung komplett unvoreingenommen betrachtet werden muß, dh ohne Rücksicht auf früher gefaßte Pläne.[/QUOTE]Das ist damit nicht gemeint. Vielmehr muß jeder Zug in Beziehung zum Charakter, oder um es in der Marxschen Terminologie zu formulieren, zu den objektiven Bedingungen, der Partie gesetzt werden und daraus abgeleitet werden. Insofern ist es egal, ob wir im 4. oder im 50. Zug sind, die Grundlage des dialektischen Denkens im Schach soll für einen sowjetischen Schachspieler immer dieselbe sein. Das meinte Botwinnik auch damit, daß es in der Sowjetischen Schachschule nicht vorkomme, daß bestimmte Einzelheiten wie Eröffnung, Endspiel, Taktik, Verteidigung usw. überbetont werden. Im holistischen (ganzheitlichen) Materialismus wird alles im Zusammenhang gesehen, also wird auch im Schach jede Einzelheit im Zusammenhang zur Partie, d. h. zum Spielfluß gesehen.

Beitrag von Kampfkeks

Ich verstehe es nicht.. könntest du ein Beispiel geben, wie man sich das vorstellen muß?

Beitrag von Kiffing

Ja klar, gerne:Also, der Dialektische Materialismus, der auf eine Art Widerspruchstheorie aufbaut, besteht aus drei Grundpfeilern:1. Widersprüche führen zu einer qualitativen Weiterentwicklung (These+Gegenthese=Synthese usw.)2. Negation der Negation (das Vergangene muß nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, sondern es gibt auch etwas, was nach den gegebenen Kriterien bewahrt werden kann, ja sollte).3. Wegen dieses Grundgedankens sind "Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte" (Marx), der Konflikt muß geführt werden, Harmonie verwässert nur und verhindert ein gesetzmäßiges Fortschreiten (daher sind Kommunisten auch gegen jede Form von Kompromissen bzw. Evolution, siehe z. B. die historische Feindschaft gegenüber den Sozialdemokraten).Nun zum Schach:1. Im Schach gibt es ständige Widersprüche, meine These ist, mein Plan x kann gewinnen, die Gegenthese aufgrund der Widersprüche auf dem Brett lautet aber, der Gegner droht y oder der Gegner kann mit z meinen Plan vereitelt. Aufgrund dieser These und Antithese muß ich nun die Synthese bilden, wie ich wissenschaftlich aus den objektiven Bedingungen auf dem Spielfeld noch das Optimum heraushole.2. Die kleinbürgerlich-dekadenten westlichen Großmeister wie Tarrasch, Steinitz, Reti oder Nimzowitsch haben aufgrund ihres Denkfehlers, da sie ja vom kapitalistischen Überbau determiniert wurden, das Schachspiel viel zu statisch gesehen (und noch viel mehr). Aufgrund der Negation der Negation muß aber nicht alles, was sie so von sich gaben, verworfen werden. Manches, was sie preisgaben, hat ihre Richtigkeit und sollte gegebenenfalls in dem dialektischen Spielverlauf einer Schachpartie geprüft werden.3. Wenn der Gegner Dich angreift, versuche ihn nicht zu besänftigen, sondern suche nach radikalem Gegenangriff, um diesen Konflikt zu lösen. Siehe: [url]http://www.schachburg.de/threads/939-Der-Schachstil-in-der-stalinistischen-Sowjetunion[/url]Damit Du mich nicht mißverstehst. Das sind nur meine persönlichen Interpretationen des von der SU v. a. in früheren Jahren gepriesenen Dialektischen Schachstils. So holistisch wie der Materialismus als Weltanschauung auch gewesen ist, so sollte doch davor gewarnt werden, ihn eins und eins auf jede gesellschaftliche Disziplin umzusetzen. Und auch in der Sowjetunion war man sich dieses Problems durchaus bewußt und verwendete lieber Termini wie konkret-schöpferisch, flexibel usw. statt dialektisch in Bezug auf das Schach. Die dialektischen Denkmuster waren zwar durchaus präsent, aber sie wurden vor allem in den späteren Jahren der UdSSR im Schach nicht mehr proklamiert. Das war ja auch kein Wunder, denn auch in der Sowjetunion hatte sich irgendwann herumgesprochen, daß die Wirklichkeit aus mehr besteht als aus dialektischem und historischen Materialismus. U. a. die von Stalin protegierte Lehre von Lyssenko, daß auch das Saatgut von den Umweltbedingungen statt von seiner originären (erinnert an genetischen; die Genetik war als Lehrfach in der UdSSR unter Stalin verboten) Beschaffenheit abhängt, so daß auch schlechtes Saatgut in eine "höhere Qualität" umschlagen könne, wenn es entsprechend getrimmt werde (z. B. durch Käteschock), mündete in eine Hungersnot. Und der "marxistische" Versuch, dialektisch die Urknalltheorie zu widerlegen, findet auch nicht mehr allzu viele Anhänger.Trotzdem gehört die Idee des dialektischen Schachstils zur Schachgeschichte, und insofern hat sie es verdient, daß man sich mit ihr auseinandersetzt, auch wenn im Schach grundsätzlich spezielle Denkschulen angebrachter sein mögen als eine holistische Philosophie, die meint, alle Fragen des Lebens klären zu können und für alles ein Rezept hat.