Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Was ist für euch modernes Schach?“

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Beitrag von Kiffing

Heute möchte ich euch fragen, wann für euch die Moderne im Schach eigentlich beginnt. Diese Frage läßt durchaus verschiedene Ansichten zu, weil der Begriff der „Moderne“ zumindest vom Wortlaut her ein relativer Begriff ist, so daß er vom Betrachter als jeweils aktuell aufgefaßt werden kann, und zwar im Sinne von: alles, was neu ist, ist gerade modern. Auf der anderen Seite kann der Begriff aber auch als eine zeitlich fixierte Epoche aufgefaßt werden, wo sich natürlich gestritten werden kann, wann denn nun die Moderne genau begonnen habe. Historiker bezeichnen etwa die unmittelbare Zeit nach dem Mittelalter, die Zeit rund um die Anker der Entdeckung Amerikas, der Erfindung des Buchdrucks und der Zeit der Reformation, gerne als Frühmoderne. Andere Historiker kritisieren wiederum, daß Hexenwahn und Religionskriege in der sogenannten Frühmoderne noch ausgeprägter gewesen waren als im Mittelalter und ordnen erst die Zeit der Industrialisierung als Beginn der Moderne ein. Das seit den 80er Jahren bekannte Phänomen der Postmoderne zeigt wiederum auf, daß der Begriff der Moderne in der Tat, zumindest, wenn mit ihm eine Epoche beschrieben wird, nicht unbedingt etwas Neues beschreiben muß, sondern gerne auch etwas Altes und vielleicht sogar Überholtes.Bezogen auf das Thema Schach gibt es auch hier unterschiedliche Ansichten. Natürlich sind die meisten Schachspieler davon überzeugt, daß im Sinne der Zeit der Industrialisierung, die bekanntlich auch mit zahlreichen wissenschaftlichen Erfindungen wie der mechanische Webstuhl, die Dampfmaschine oder die Fortschritte in Physik, Chemie und Medizin einherging, Wilhelm Steinitz mit seinem theoretisch fundierten schachlichen Grundgebäude das Tor zur Verwissenschaftlichung und damit zur Moderne des Schachspiels aufgestoßen habe. Derselben Ansicht habe ich selbst mich [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.schachburg.de/threads/2003-Triumph-der-Wissenschaft-Steinitz-schlägt-Zukertort-1886". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "angeschlossen" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.], doch gibt es andere Stimmen. Dr. Kurt. G. Köhler etwa behauptete in seinem Nachdruck von Philidors Praktische Anweisungen zum Schachspiel, Steinitz habe Philidor im Wesentlichen [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.schachburg.de/threads/1861-Steinitz-als-Plagiator-von-Philidor-zur-These-von-Dr-Köhler". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "plagiiert" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.], so daß sich der Umkehrschluß aufdrängt, der Wegbereiter der schachlichen Moderne sei nicht Steinitz gewesen, sondern Philidor. Dem kann allerdings entgegengehalten werden, daß die Zeitgenossen Philidors Lehre überhaupt nicht verstanden und zutiefst abgelehnt haben, weil es ihrem romantischen und wagemutigen Verständnis des Schachspiels zuwiderlief. Insofern gab es in allen gesellschaftlichen Bereichen immer wieder Genies, die ihrer Zeit weit voraus waren, und zwar manchmal so weit, daß für ihre Innovationen keine Verwendung gefunden werden konnte, sie so nicht bis kaum genutzt werden konnten und z. T. wieder verloren gingen. Ein Beispiel sei hier mit dem antiken Archimedes genannt, dem Erfinder u. a. der Pneumatik, der Zeitmessung und der Hebelgesetze. Folglich führten diese Genies nicht in eine neue Epoche, deren Entdeckungen konnten im Laufe der Zeit aber genutzt werden, in denen in späteren Zeiten die Menschen, in ihrer Entwicklung nun weiter und damit reif für diese früheren Entdeckungen, auf das Erbe ihrer Vorfahren zurückgriffen. Somit dürfte ein Philidor in einem ähnlichen Verhältnis zu Steinitz stehen wie etwa die Frühsozialisten bzw. die utopischen Sozialisten zu Marx und Engels, die eine schon vorher bekannte Idee aufgriffen und mit wissenschaftlichen Methoden untermauerten. Den entgegengesetzten Weg zu Dr. Köhler ging freilich der Schachlehrer und -Philosoph John Watson, dem die Spielweise der ersten Spielergenerationen nach Wilhelm Steinitz so fremd war, daß er darin keine Modernität erkennen konnte. Er kritisiert besonders das statische, dogmatische und auch im Lichte der heutigen Zeit fehlerbehaftete Element der ersten Spielergenerationen nach Steinitz. So war für John Watson nicht Wilhelm Steinitz, sondern Alexander Aljechin der Spieler, der im Schach „den Übergang von der traditionellen Sichtweise zum modernen analythischen Zugang“ (John Watson, Geheimnisse der modernen Schachstrategie, Fortschritte seit Nimzowitsch, GAMBIT-Verlag, Deutsche Erstausgabe 2002, S. 269) "symbolisiert" habe. Es ist richtig, daß das Schach heute im Vergleich zur Zeit zwischen Steinitz und Capablanca flexibler, offener, dynamischer und konkreter geworden ist, und daß eine Verschiebung in dem Spannungsfeld zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zugunsten des Besonderen stattgefunden hat. Doch wiederstrebt es mir, diese Entwicklung modern zu nennen. Denn historisch läßt sich die Epoche der Moderne als Herausbildung neuartiger und gesellschaftsübergreifender wissenschaftlicher Prinzipien kennzeichnen, die alle Bereiche der Gesellschaft und damit auch das gesellschaftliche Denken durchdringen, an die als Denkweisen, die den Fortschritt brächten, geglaubt wurde, während andere Denkweisen als rückschrittlich aufgefaßt wurden. So muß also erst etwas Neues verstanden werden, bis es, nach jahre- oder auch jahrzehntelangen Meinungskämpfern zwischen „Progressiven“ und „Reaktionären“ in seiner Bedeutung relativiert und in ein rechtes Verhältnis zum Gesamtzusammenhang eingeordnet werden kann. Diese Relativierung spiegelt das wider, was wir heute postmodern nennen, an modernen Prinzipien wird nicht im modernen Sinn geglaubt oder im vormodernen Sinne eines Kulturpessimismus bzw. einer Weltflucht gerüttelt, sondern im postmodernen Sinne einer Relativierung mit all der damit verbundenen Akzeptanz unterschiedlicher Konzepte unterzogen, derer sich in einem pragmatischen Sinne bedient werden kann. Wie denkt ihr darüber? Wann beginnt für euch das moderne Schach?