Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Wie kam es zum langen Niedergang des französischen Schachs?“

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Beitrag von Kiffing

Das französische Schach war an überragenden Einzelkönnern reich gesegnet. Namen wie Philidor (eigentlich Francois Andre Danican), Alexandre Deschapelles, Louis Charles de la Bourdonnais und Pierre Charles Fornier de Saint Amant bürgen dafür, daß das französische Schach etwa von 1750 – 1850 weltweit führend gewesen sein soll. Erst als der französische Spitzenspieler Saint Amant 1844 im Cafe de la Regence gegen Englands Spitzenspieler Howard Staunton in einem Revanchekampf mit 11:6 bei 4 Remis klar verlor, mußte Frankreich seine schachliche Vormachtstellung an England abgeben. Als Saint Amant schließlich von der Bühne des Schachs abtrat, sollten nach Ripperger, Wieteck und Ziegler mehr als 100 Jahre vergehen, bis das Schachland Frankreich mit Joel Lautier und Etienne Bacrot zwei vergleichbare Spitzenspieler hervorbrachte.Nun möchte ich euch fragen, was ihr für Vermutungen habt, woran diese doch sehr lange Durststrecke liegen könnte. Ich persönlich vermute, daß der allmähliche Niedergang der [URL="http://www.schachburg.de/threads/863-Als-das-B%C3%BCrgertum-sich-das-Schach-erschlo%C3%9F"]Kaffeehauskultur[/URL] und vor allem des [URL="http://www.schachburg.de/threads/864-Das-Cafe-de-la-Regence"]Cafes de la Regence[/URL] dafür verantwortlich zeichnen. Wie denkt ihr darüber? Hat jemand Ahnung in dieser doch schon recht speziellen Frage?

Beitrag von Kiffing

Vor vielen Jahren hatte sich mit Eduard Lasker schon einmal jemand diese Frage gestellt, und dieser kam zu [URL="http://xn--schach-anfnger-fib.de/Schach-Biografien.html"]verblüffenden Erkenntnissen[/URL]:[QUOTE]Die Art von Schach, die mir im Régence vor die Augen kam, war, verglichen mit dem, was mir in Berlin begegnet war, nicht sehr beeindruckend. Aus bestimmten Gründen hat das französische Volk keinen erstklassigen Schachmeister mehr hervorgebracht seit Philidor und La Bourdonnais, gerade wie es auch Spanien und Italien verfehlt hatten, die große Verheissung aus den Tagen eines Ruy Lopez oder Greco oder Stamma mit Leben zu füllen. Vielleicht ist das quicklebendige romanische Temperament nicht so förderlich für gutes Schach wie der kontemplative Charakter der nordischen Völker. Letztere fühlen sich mehr zum Studium intellektueller Spiele hingezogen; das sorgt für einen breiten Hintergrund, aus dem heraus sich Meister leichter entwickeln. Ohne diesen Mangel an schachlichem Hintergrund würde man erwarten,dass Frankreich außergewöhnliche Meister hervorbringt. Schachmeisterschaft erfordert einen wissenschaftlich denkenden Geist gepaart mit der Gabe künstlerischer Kreativität. Und ein Land, das einen Henri Poincaré und einen Cézanne hervorgebracht hat, sollte sicherlich ein fruchtbarer Boden sein für einen weiteren Philidor.[/QUOTE]:lach:Dabei war Eduard Lasker eigentlich kein Nationalist. Zum Wesen des Nationalismus sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, England und den USA war seine Kritik sehr treffend:[QUOTE]Mein französischer Freund erwies sich als ein sehr interessanter Bursche von erstaunlicher Reife in Anbetracht seiner 18 Jahre. Er studierte Mathematik an der Sorbonne, und wir verglichen die Notengebung im französischen und deutschen Schulsystem. Grundsätzlich schien es da keinen großen Unterschied zu geben. Die Disziplin wurde in beiden Ländern an der Volksschule und am Gynasium groß geschrieben, aber an den Universitäten gab es völlige Freiheit. In beiden Ländern wurden die Jugendlichen mit einer dumpfen Art von Nationalismus indoktriniert. Das Result war, dass jeder deutscher Junge beim Erreichen des Abiturs der Überzeugung war, dass alles in Deutschland besser war als in jedem anderen Land. Und jeder französische Junge verließ die Schule mit der gleichen Überzeugung hinsichtlich Frankreich. In späteren Jahren, als ich in England und den Vereinigten Staaten lebte, war ich überrascht, dass dort an den angelsächsischen Schulen mit Selbstverständlichkeit die gleichen Methoden angewandt wurden. Mich wundert nicht, dass es zu zwei Weltkriegen kam.[/QUOTE](ebd.)