Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Der Watson“

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Beitrag von Kiffing

Ich habe den modernen Klassiker von John Watson: „Geheimnisse der modernen Schachstrategie – Fortschritte seit Nimzowitsch“ ausgelesen und möchte es zur Diskussion stellen, was ihr von den Thesen von Watson haltet. Auch wenn Watson immer betont, er spiegele nur die Entwicklung des modernen Schachs wider, sind seine Thesen ja nicht unumstritten, vor allem, da er immer wieder den radikalen Schachrebellen Suba voranschickt. :oh-oh: Aber erst einmal zum Aufbau des Buchs. Das Buch ist fein gegliedert und besitzt durchaus Qualität, sowohl von den herausgesuchten Partien her, von den Kommentaren, als auch von den Reflexionen des Autors, die er durchaus mit Fakten zu untermauern versteht. Der erste Teil stellt dabei eher die Thesen von Nimzowitsch vor, während es im zweiten Teil vor allem darum geht, zu reflektieren, ob sich nach heutigem Licht (Stand ist das Erscheinungsjahr des Werkes, also 1998) diese Thesen bewahrheitet haben und wenn nicht, was stattdessen in diesem Thema die moderne Behandlung ist.Wichtig ist hierbei seine Argumentation, es komme weniger darauf an, eine Stellung nach gehobenen Leitlinien zu bewerten als vielmehr jede Stellung spezifisch zu betrachten. Diese Position kenne ich freilich schon von der sowjetischen Schachschule, z. B. von Lipnitzky, die aber nie so weit ging, die Regeln gleich gänzlich zu verdammen. Was freilich auffällt ist, daß Watson oft dazu übergeht, zwar bekannte Leitlinien abzulehnen, dafür aber neue zu schaffen wie, daß Bauernketten auch gut an der Spitze angegriffen werden können, daß Bauernraub am Flügel den „inneren Verteidigungsring“ durchbricht oder daß man bei Läuferpaar erst Stellung stabilisieren und dann öffnen soll bzw. gegen das Läuferpaar entgegen der gängigen Meinung öffnen soll. Ganz kann man also wohl nicht auf Regeln bzw. Richtlinien verzichten, um sich dem Schach zu nähern. ;)Trotzdem stellt der Autor einen guten Überblick über das Schach und seine Entwicklung dar, und seine Überlegungen, etwa zum Thema Initiative, sind durchaus interessant und in jedem Fall eine Bereicherung. Positiv an dem Buch ist auch, daß der aktuelle Stand der Mittelspieltheorie dargestellt wurde. Das hilft einen enorm viel weiter, auch die Lehren von alten Meistern mit dem neuen Stand in Relation zu setzen.

Beitrag von Kleinmeister

Ich habe den Watson auch gelesen, wenn auch leider nicht alle Beispiel wirklich durchgespielt, und ich finde Kiffing hat Recht, dass sich Watson oft auf Suba beruft und daher Mittelspielstrategie sehr radikal und regellos angeht. Das scheint mir aber einfach auch absichtlich ein bisschen zu provokativ zu sein, vielleicht um einen Gegenpol zum zu dogmatischen Vorgänger Nimzowitsch zu schaffen und vielleicht auch um den Leser aus seiner Komfortzone zu zerren. Mein Fazit nach der Lektüre der wirklich guten Lektüre zu wie ich es nenne: "Beispielen des modernen Schachs" ist folgendes: Schach folgt natürlich gewissen Regeln, ABER die Zahl der Ausnahmen ist deutlich größer als früher angenommen und manche Regeln wurden vielleicht nicht optimal formuliert!

Beitrag von MagnusFTW

Ich habe das Buch und den Nachfolgeband auch gelesen (und ich meine nur gelesen, nicht wirklich viele Partien analyisert oder nachgespielt). Ich fand die beiden Bücher sehr gut :)Wenn ich mal etwas mehr Zeit haben sollte, habe ich vor, die beiden Bücher richtig durchzuarbeiten, das bringt spielstärkentechnisch bestimmt ne Menge ;)

Beitrag von Kiffing

Vielleicht bringt eine Aussage des bekannten Schachlehrers Alexei Suetin die mit revolutionärem Verve vorgetragene "Regelstürmerei" Watsons ein wenig ins Gleichgewicht. In Schachstrategie für Fortgeschrittene, Band 2, schildert Suetin ein Gespräch mit einem nicht namentlich genannten Schachmeister, der zu ihm gesagt habe, in etwa einem von zehn Fällen sei während einer Schachpartie ein Ausnahmefall von den allgemeinen Regeln der richtige Zug. Suetin ging es hierbei, um aufzuzeigen, wie schädlich schablonenhaftes Denken im Schach sei, weil die oberflächlichen Spieler nicht dazu in der Lage seien, solche Ausnahmefälle auch aufzuspüren. Von daher ist es nicht so, daß die allgemeinen Regeln alle Quatsch sind. Watson geht mit seiner Kritik wahrscheinlich zu weit. Trotzdem ist es natürlich ein didaktisch starker Ansatz, den Fokus auf die Ausnahmefälle zu legen, und insofern bleibt "der Watson" ein ausgezeichnetes und horizonterweiterndes Lehrbuch, das auch spielerisch einen starken und strukturierten Einblick in die Schachgeschichte bietet, das man aber mit der nötigen Distanz lesen sollte.

Beitrag von Zapp Brannigan

Ich glaub nicht dass Watsons aussage ist, alle allgemeine Regeln seinen Quatsch. Seine aussage ist viel mehr, dass allgemeine regeln eben nur das sind: allgemein. Diese regeln helfen, einen kandidatenzug zu finden und sich in positionen zurechtzufinden, aber nur eine konkrete analyse kann sagen, was der richtige zug ist. Als Carlsen mit schwarz gegen anand in der berliner verteidigung den abtausch von schwarzfeldrigen läufern mit 10...Be7 zuliess sagte ich mir, das muss falsch sein. Jeder berlin-spieler weiss, dass der schwarz-feldrige läufer die schwächste figur von weiss ist, deshalb ist die allgemeine regel, dazu zu schauen dass weiss auf diesem läufer sitzen bleibt (eine ausnahme ist, wenn man auf e7 mit dem könig zurücknehmen kann, dann hilft es der entwicklung der türme und ist oft auch vorteilhaft für schwarz). Aber Carlsen hat da weitergesehen, und die kontrete position erlaubte halt der abtausch des läufers, weil die u.a. die weissen springer ziemlich falsch standen und der falsche turm auf d1 stand[url]http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1737177[/url]

Beitrag von zugzwang

Watson wird nachgesagt, daß er gegen (zu) feste Regeln anreitet.Und alles konkret beurteilt wissen will.Ich weiß nicht, ob das wirklich die herauszulesende Essenz ist, und will jetzt nicht die 2 Bände durchlesen oder mal wieder anblättern.Im Gegensatz zu Euch habe ich ihn bisher nicht gelesen - warum auch immer, nur ab und zu geblättert.Die Bücher halte ich für lesenswert, doch einiges, was andere Leser oder Rezensenten als erleuchtend bezeichnen, habe ich schon anderswo, vielleicht nicht so knallhart und geballt, gefunden.Suetin spricht in Schachlehrbuch für Fortgeschrittene und Typische Fehler bereits 1973 bzw. 1981 die Dynamik des Schachkampfs und das konkrete Herangehen an die Stellungsbeurteilung an. Und Regeln, die vielfach nicht aus der Luft gegriffen sind, helfen gerade nicht so starken Spielern sich zu orientieren, wenn ihnen sonst wenig einfällt, sie unsicher sind und ihre konkreten Berechnungen vor wagemutigen und waghalsigen Lücken nur so trotzen.Gerade wenn man sich in Richtung einbahnstrßiger Schachsackgasse bewegt, kann es sehr wohl helfen, mal im Kopf zu blättern, welche "Regeln" auf die Brettsituation zutreffen könnten und welche Zugkandidaten sich daraus ergeben.Selbst wenn die Regel eine große Fehlerquote von 30-40% aufweist, ist ihre Anwendung statistisch schon günstiger als das Stochern im Nebel.Und auch stärkere Spieler sollten sich bei einigen Zügen hinterfragen, ob ihre Zugauswahl wirklich konkret genug begründet ist, um von den ihnen bekannten Leitlinien günstig abweichen zu können.

Beitrag von zugzwang

Watson gibt im 1. Teil im Kapitel 1 "Überblick" eine Übersicht über seine Ansatzpunkte und seine Methodik.Danach läßt sich eine ausgezeichnete, überarbeitende Darstellung erwarten und ich denke, der ambitionierte und engagierte Schachfreund wird nicht enttäuscht.Hier möchte ich ein Stopp setzen und folgende Frage aufwerfen:Bis zu welcher Spielstärke unterhalb von Meisterstärke (also Oder: Sind nicht ganz so leistungsstarke Spieler besser "bedient", wenn sie auf die Anwendung der Watsonschen Erkenntnissen verzichten und dafür sich das solide klassische Erbe aneignen?Ich habe die Vermutung, daß Spieler,diesich noch weit unterhalb von Meisterniveau befinden, mit anderen Lehrbüchern, die ihnen festere Leitlinien und Grundsätze an die Hand geben, einen schnelleren und größeren Leistungsschritt machen können, als wenn sie auf Watsons richtige, aber für viele Spieler nicht umsetzbare Hinweise setzen.

Beitrag von Kiffing

@zugzwang:ich gebe Dir Recht damit, daß man Watson methodisch wohl schwerlich etwas vorwerfen kann. Sein Werk hält allen wissenschaftlichen Anforderungen stand und bietet überdies durch weitergehende Ausführungen das gewisse Etwas (s. o.). Deine Frage, welchen Wert sein Werk zur Steigerung der Spielstärke hat, ist tatsächlich interessant, denn nicht jeder ist in der Lage, zu einem Lehrbuch die nötige kritische Distanz zu wahren, um so den Lehrstoff bestmöglich nutzen zu können.Es heißt nicht umsonst, daß man etwas erst verstanden haben sollte, um es dann bei Bedarf zu kritisieren. Ein Großmeister versteht, wann er in einer gegebenen Stellung vom Lehrstoff abweichen sollte, weil die konkrete Stellung es gerade verlangt. Wer aber die grundlegenden Muster einer Schachpartie noch nicht richtig verinnerlicht hat, der wird diesen Bedarf meistens nicht erkennen. Die Römer meinten dazu: quod licet jovi, non licet bovi.Überdies baut das Werk stark auf die Theorien Nimzowitschs auf, die damals revolutionär waren, aber sich im Laufe der Zeit erst bewähren mußten. Hier nimmt der Autor jede These Nimzowitschs auseinander, um seine Thesen anhand der jahrzehntelangen Praxis seit Nimzowitsch zu messen und dann zu seinem Schluß zu kommen, ob sich die These bewährt hat, und wenn nicht, wie die These stattdessen aussehen sollte. Das beste Beispiel sind die Bauernketten, wo Nimzowitsch noch gelehrt hatte, daß diese vornehmlich an der Basis anzugreifen seien. Hier führt Watson nun anhand von zahlreichen Beispielen aus, daß es sich in einer Schachpartie oft empfiehlt, Bauernketten an der Spitze anzugreifen. In diesem Stile geht es oft weiter. Was also wäre meine Empfehlung: 1. vorher Nimzowitschs Mein System lesen (und natürlich nicht Mein System easy, aber das wäre jetzt ein anderes Thema :P). 2. erst mit den tradierten Lehrmustern vertraut sein, also mit eher konventionellen LehrbüchernEin FM meinte mal, Watson sei der Nimzowitsch von heute. Auch wenn das für den Autoren spielstärkemäßig sicherlich nicht zutrifft, so finde ich diesen Gedanken zumindest interessant. Allerdings war Nimzowitsch hypermodern, während ich Watson als [URL="http://www.schachburg.de/threads/922-Die-Postmoderne-im-Schach?highlight=Postmodernen"]Postmodernen[/URL] ansehe. Und das ist nicht ganz dasselbe. :D

Beitrag von Kiffing

Wer mehr über die postmoderne Regelstürmerei im Schach erfahren möchte, für den ist derzeit ein Schachbuch auf dem Markt, das allerdings noch nicht auf deutsch erschienen ist. Der Titel: "Break the rules" vom englischen GM Neill McDonald ist natürlich Programm. :D Rezension hier: [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.schachversand.de/startneu2.htm". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://www.schachversand.de/startneu2.htm" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.]

Beitrag von chessiscruel

Ich habe Watson gelesen und die Hauptaussage ist einfach,daß Schach ein sehr konkretes Spiel ist und es keine Regeln gibt.Didaktisch gibt es sicher bessere Bücher,obwohl manche Partien im Watson ziemlich gut sind.Aber ehrlich gesagt glaube ich,daß man aus Koblenz,Kotov,Euwe und den ganzen Klassikern mehr lernt eventuell noch Biographien von Smyslov und Botwinnik.Wo man den Watson einordnen kann weiß ich nicht,auch wenn sich das Buch "Fortschritte seit Nimzowitsch" nennt,viel wirklich revolutionäres hab ich darin nicht gefunden.Gut ,das Kapitel"erst das Vergnügen,dann die Arbeit",über offbeat Eröffnungen ist ganz interessant,aber eigentlich auch ein alter Hut,wenn ich solche Eröffnungen wie 1.b3 spielen wollte,kauf ich mir keine Sekundärliteratur ,sondern ein Eröffnungsbuch darüber.Und ansonsten hab ich keinen einzigen" Fortschritt",den nicht schon Suetin in seinen Büchern Schachstrategie,b.z.w,"das Mittelspiel und sogar der gute alte Euwe bereits erwähnt hat ,gesehen

Beitrag von Kiffing

Hat sich eigentlich 16 Jahre nach Erscheinung des Watsons nochmal was im Schach verändert, was man als "Fortschritte seit Watson" bezeichnen könnte? Oder um es etwas nüchterner zu formulieren, gibt es seit 1998 neue Trends im Schach? Wer kennt sich da aus? :denknach:

Beitrag von Zapp Brannigan

Eröffnungstechnisch gab es zumindest folgende trends:a) Berliner mauer --> wurde ja vor Kapsparov-Kramnik fast nicht gespielt, ist jetzt DIE verteidigung gegen 1.e4, 1.e4 e5 hat auch den sizilianer als beliebteste waffe gegen 1.e4 auf höchstem niveau abgelöstb) Bb5(+) sizilianer --> da man im offenen sizilianer (vor allem gegen sveshnikov) immer weniger erreichen konnte wurden die Bb5(+) sizilianer immer beliebterc) Spanier mit d3 --> gleiches phenomen wie beim Bb5(+) sizilianer, der spanier mit d4 scheitert aus weisser sicht momentan sowohl an der berliner mauer wie auch am marshall-gambit, weswegen immer öfters d3 gespielt wirdWährend die meisten super-GMs immer tiefer analysierten kam Carlsen mit einem ganz neuen trend, er spielt relativ harmlose varianten (Bb5-sizi, d3-spanier) welche mit einer engine gar nicht ausanalysiert werden können und überspielt seine gegner im mittel- und endspiel.

Beitrag von Kiffing

Ja gut, Eröffnungen kommen und gehen, aber der Trend etwa hin zur "Berliner Mauer" ist natürlich seit den Weltmeisterschaften Kasparov vs. Kramnik und Anand vs. Carlsen unverkennbar. Ich persönlich finde es aber gut, daß die Weißspieler aktiv geworden sind und z. T. schon [URL="http://www.schachburg.de/threads/807-Die-Berliner-Verteidigung?p=22774&viewfull=1#post22774"]kreative Lösungen[/URL] gefunden haben, dieses Bollwerk zu knacken.Daß Magnus Carlsen einen neuen Trend eingeleitet hat, damit gebe ich Dir Recht, und gerade so ein überragender und allseits anerkannter Weltmeister wie Carlsen kann in dieser Richtung viel beeinflussen. Insofern wird wohl erneut eine Epoche des "Hyperdynamismus", die ein Suetin vor den "Klassikern" Fischer und Karpov beobachtete und die durch Kasparov wieder aufblühte, durch einen überzeugten Positionsspieler abgelöst (auch ein Fabiano Caruana wirkt in dieser Richtung). "Alles kehrt wieder", Nietzsche. :D