Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Modernes Schach ist konkret oder wie glaubwürdig sind Tarrasch, Reti und Euwe“

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Beitrag von blunder1

Die letzten Jahre hat – in meinen Augen glücklicherweise – eine deutliche Verbesserung bei der Analyse von Schachpartien bzw. dem allgemeinen Schreiben über das Schach stattgefunden.Man geht viel konkreter an das Thema heran und analysiert die Stellung auf dem Brett, ohne zu sehr die allgemeinen Regeln zu beachten, welche von Autoren wie Tarrasch und Euwe aufgestellt worden sind und über lange Zeit hinweg fast als Dogmen galten.Moderne Autoren/Analytiker genieβen, im Vergleich zu früheren Kollegen, zwei Vorteile: Autoren wie Tarrasch oder Euwe waren – bei allen ihren Verdiensten – Kinder ihrer Zeit und manchmal zu “regelgläubig”.John Nunn schreibt in seinem Buch Das Verständnis des Mittelspiels im Schach (2012): “Viele Autoren von Tarrasch bis Euwe waren der Meinung, dass das Schachspiel formalisierbar ist und definitiven, ja fast mathematischen, Regeln gehorcht. Das ist aber nicht wirklich der Fall, da jedes allgemeine Prinzip immer eine groβe Zahl von Ausnahmen haben wird. Leider gerieten die oben genannten Autoren, die beide sehr viel Lohnenswertes über das Schachspiel zu sagen hatten, in ihrem Formalisierungsbestreben manchmal auf Abwege, was sich auch auf weniger bedeutende Vertreter der schreibenden Zunft auswirkte, die häufig Prinzipien verbreiteten, die wenig oder gar keinen Sinn machen.” (Kapitel Mythen des Mittelspiels)Ein einfaches Beispiel ist die Bauernmehrheit am Damenflügel, welche noch Max Euwe grundsätzlich als vorteilhaft einstufte (Urteil und Plan im Schach, 1956). Sie kann ein Vorteil sein, ist es aber nicht immer.Ein Paradebeispiel ist die Neubewertung des Schachs von Emanuel Lasker (Weltmeister 1894-1921), der trotz sehr geringer Spielpraxis dreiβig Jahre lang der erfolgreichste Spieler der Welt war. Um diese Neubewertung haben sich u.a. die Groβmeister Robert Hübner, John Nunn und Mihail Marin verdient gemacht.Lasker war ein universeller Spieler, der alle Stellungen gut behandeln konnte, ob taktisch oder positionell, dynamisch oder strategisch; auβerdem glänzte er im Endspiel, was es ihm erlaubte, zahlreiche Partien, die lange ausgeglichen standen, doch noch zu gewinnen. Magnus Carlsen erinnert, so Nunn und Marin, sehr an Lasker.Ferner spielte er ein für damalige Verhältnisse sehr modernes Schach; er war undogmatisch und setzte sich über die oft starren Regeln hinweg, welche seine Rivalen einengten, die gemäβ ihres Kenntnisstandes vorgingen.Da er seiner Zeit weit voraus war, verstanden seine Zeitgenossen sein Spiel nicht und ergingen sich in die tollsten Erklärungsversuche, um seine Erfolge zu begründen: Sie reichten von reinem Glück über Bluff, Hexerei, die Wirkung seiner Zigarren bis zu Richard Reti in Meister des Schachbretts, der wirklich glaubte, dass Lasker mit Absicht schlechte Züge spielte.Reti begründet dies folgendermaβen: Bei der immer besser werdenden Technik der führenden Meister sei es immer schwieriger geworden, Partien zu gewinnen (schon damals wurde der “Remistod des Schachs” lebhaft diskutiert); daher hätte Lasker mit Absicht schlechte Züge gespielt, um Ungleichgewichte zu schaffen, und nachdem er seine Gegner in diese “psychologische Falle” gelockt hätte, seine wahre Spielstärke an den Tag gelegt und die Partien doch noch gewonnen.Moderne, konkrete Analysen belegen, dass zahlreiche Stellungen Laskers, welche seine Zeitgenossen für schlecht/verloren hielten, es in Wirklichkeit gar nicht waren; Hübner bezeichnet Laskers “psychologische Kriegsführung im Schach” sogar als “Märchen”, das unkritisch von Generation zu Generation weitergegeben wurde und immer noch weit verbreitet ist.Nunn begündet in seinem Buch John Nunns Chess Course, das auf Laskers Schach aufgebaut ist, dass auch modernere Schachautoren wie Crouch, Soloviov und Soltis fehlerhafte Analysen, z.B. von Tarrasch, unkritisch übernommem hätten.Autoren wie Tarrasch, Reti und Euwe haben sich groβe Verdienste um das Schach erworben, doch ist bei ihren Lehren/Analysen auch Vorsicht geboten.Die moderne, sehr konkrete, EDV-gestützte Herangehensweise an das Schach stellt einen groβen Fortschritt dar. Daher glaube ich, dass Anfänger, die Schach richtig lernen wollen, sich besser an moderne Lehrbücher halten sollten; die Bücher von John Nunn z.B., von denen ich ein gutes halbes Dutzend besitze, sind alle empfehlenswert.

Beitrag von Babylonia

Herzlichen Dank für deinen Beitrag, Blunder! Ich habe mit Büchern von Max Euwe gelernt, die für mich den Vorteil haben, dass ich auch welche in der niederländischen Originalversion habe. Er ist 1981 verstorben aber nach wie vor der große Guru in den Niederlanden. In seinen Lektionen über positionelles Schach beruft er sich auf die Lehren von Steinitz. Ansosnten habe ich auch das Lehrbuch "Schach Zug um Zug" von John Nunn, mit dem ich noch nicht näher gearbeitet habe, da ich seit längerem systematisch mit der Stappenmethode von Cor van Wijgerden und Rob Brunia lerne. Die gibts in 4 Sprachen und je nach Sprachengeschmack kann man sich die Übungshefte und Trainerhandbücher auf Niederländisch, Deutsch, Englisch oder Französisch bestellen. Babylonia

Beitrag von blunder1

Auch Tarrasch griff Steinitz Lehren auf und führte sie weiter. Ich halte Steinitz für den wichtigsten und einflussreichsten Denker der Schachgeschichte, aber man sollte auch immer versuchen, den historischen Kontext im Auge zu behalten:Steinitz war ursprünglich ebenfalls ein Kind seiner Zeit gewesen und hatte das damals typische, romantische Schach gespielt, doch 1872 begann er, seine Positonslehre auszuarbeiten. Er war ein Pionier und ich glaube, dass er es manchmal – wie alle Pioniere – (auch) in seinen Partien übertrieb, vor allem, dass er positionellen Aspekten zu viel Bedeutung beimaβ und dynamischen zu wenig, was gelegentlich zu skurrilen Stellungen und schweren Niederlagen führte; auch er war – für moderne Verhältnisse - nicht konkret genug.Aber damals war alles noch Neuland, auch für Tarrasch, der dann als Lehrer (vor allem, aber nicht nur, in deutschsprachigen Kreisen als Praeceptor Germaniae) in Steinitz Fuβstapfen trat.Tschigorins Herangehensweise an das Schach war konkreter, “moderner”, aber dafür hatte er andere Schwächen, war allem seine Behandlung geschlossener Stellungen, die man für einen Spieler seiner Klasse (er galt 1889 als der zweitstärkste Spieler der Welt) nur als katastrophal bezeichnen kann.Lasker war universell und modern, daher war er über viele Jahre hinweg so überlegen; sein Talent gehörte natürlich auch zu den Gründen. Leider hat er über sein Schach nur wenig geschrieben.Vor allem Tarrasch, der Laskers Schach nicht verstand, hat mit seinen Schriften/Analysen über ein Jahrhundert hinweg ein falsches Lasker-Bild populär gemacht, das immer noch weit verbreitet ist.Wirklich bedenklich ist, dass auch modernere Autoren dieses Bild unkritisch übernommen haben: Nunn gibt in seinem Buch John Nunns Chess Course Beispiele an (Kapitel 2 Misunderstood Genius, S. 11-15). Um an das Thema unvoreingenommen heranzugehen, hat Nunn zuerst Laskers Schach mit Computerunterstützung analysiert und dann seine Erkenntnisse mit älteren Analysen verglichen; die Ergebnisse sind erstaunlich, vor allem wie falsch diese Analysen sein können.

Beitrag von Babylonia

Als ich im Anfängerschachkurs war (das müsste so 1990 herum gewesen sein) haben wir mit dem Lehrbuch "Das Schachspiel" von Tarrasch Grundlagen der Endspieltheorie geübt. Das Buch kommt von der Aufmachung und dem Druck so altertümlich daher, ich wollte mit dem Buch gar nicht selbstständig lernen. Natürlich habe ich den Unterricht besucht und dort die Übungen gemacht dabei einiges über die Opposition gelernt. Das ist alles schon lange her. Das Buch war inzwischen total vergilbt, ich habe das weggegeben. Also meine Erfahrung hat mich nicht zum Fan von Tarrasch gemacht. Babylonia

Beitrag von blunder1

Wie schon erwähnt, hat sich Tarrasch groβe Verdienste um das Schach erworben.Zu seiner Zeit war alles noch ganz neu: Steinitz hatte mit seiner Positionslehre eine regelrechte Revolution ausgelöst und die damaligen Autoren mussten sozusagen das Rad neu erfinden.Darum sollte man auch nicht zu streng mit ihm umspringen. Heutzutage, mit Abstand, viel mehr Kenntnissen über Schach und der EDV kann man Schach viel besser erklären/analysieren.

Beitrag von blunder1

Der Vollständigkeit halber will ich noch hinzufügen, dass auch andere Autoren/Experten wie Watson oder Soltis zu der Neubewertung von Laskers Schach beigetragen haben.Laskers Spiel enthielt Elemente, die im modernen Schach üblich sind, aber damals neu/unbekannt waren: Kramnik: “Er verstand, dass verschiedene Arten von Vorteil austauschbar sein konnten: Ein taktischer Vorteil konnte in einen strategischen umgewandelt werden und umgekehrt.”Dies war seinen Zeitgenossen unbegreiflich, die gemäβ der neuen, formalisierten Lehren von Steinitz vorgingen, welche Tarrasch kodifiziert hatte.Tschigorin hatte eine moderne, konkrete Herangehensweise an das Schach und äuβerte sich 1902 über Lasker: “Weder Glück noch Hypnose erklären Laskers Stärke. Er ist ein Kämpfer und besitzt ein riesiges Talent.”Tschigorin hielt Lasker für den Meister mit dem schärfsten Stil.Ebenfalls der Vollständigkeit halber will ich noch hinzufügen, dass sich Tschigorins Behandlung geschlossener Stellungen in späteren Jahren besserte, obwohl er sich nie wirklich wohl darin fühlte.Gerade in seinen besten Schachjahren (1889-1896) wurde sie ihm zum Verhängnis.Botwinnik antwortete auf die Frage, warum Tschigorin nicht Weltmeister geworden war: “Ihm fehlte eine gute Verteidigung gegen 1.d4.”