Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Gründe für den Ausstieg von Paul Morphy“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/WemLhDx.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/WemLhDx.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Viele US-amerikanische Helden auf dem Schachbrett endeten tragisch. Paul Morphy und Robert Fischer beendeten auf dem Höhepunkt ihres Könnens als noch junge Spieler abrupt ihre Karriere und lebten danach nicht mehr allzu glücklich weiter. Auch Harry Nelson Pillsbury war kein holdes Schicksal beschienen. Pillsbury gewann als 22jähriger Spieler (nach damaligen Maßstäben sehr jung) sensationell das Super-Turnier in Hastings 1895 vor der gesamten Weltelite und avancierte damit mit einem Schlag zu dem Kreis der Auserkorenen für den WM-Titel. Er steckte sich aber gleich bei seinem nächsten Turnier in St. Petersburg vermutlich mit dem Tuberkulose-Virus an, der sich als unfaßbar tückisch und unheilbar erwies, und der ihn schließlich im Alter von 33 Jahren niederraffen sollte. In den zehn Jahren, die ihm noch verblieben, spielte er zwar nach wie vor sehr eifrig Schach (allein im Jahr 1899 hatte er an 119 Schachveranstaltungen [darunter auch Blind- und Simultanveranstaltungen] und 28.000 englische Meilen zurückgelegt [=45.060,4 km] [vgl. Ripperger, Wieteck, Ziegler, Die Säulen des Schachs, Paris, Nürnberg 2012, S. 188]], konnte aber kein einziges Turnier mehr gewinnen. In diesem Thread soll es nun um den Grund gehen, warum Paul Morphy, das Wunderkind, so früh mit dem Schach aufhörte. Als 20jähriger, und nach damaligen Maßstäben noch nicht volljährig, hatte er seinen Kontinent in Wallung versetzt, als er mit Ausnahme von Howard Staunton, der nach seinem Sieg über Saint Amant als der beste Spieler der Welt galt, und der dem jungen Herausforderer gezielt auswich, alle damaligen Spitzenspieler auf seiner legendären Europatournee besiegte. Uns Deutschen ist da vor allem sein 8:3 in seinem Zweikampf gegen Adolf Anderssen in Erinnerung. Doch wie Robert Fischer kehrte er ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo das Schachfieber in seinem Land seinen Kulminationspunkt erreicht hatte, dem Schachsport den Rücken und spielte keine einzige Partie mehr. Um sich ein Bild von dem durch Morphy entfachten Schachfieber in seinem Heimatland machen zu können, zitiere ich den Schachhistoriker Harold C. Schonberg:[QUOTE]Wer glaubt, Bobby Fischer sei bei seiner Rückkehr aus Reykjavik von der amerikanischen Presse und Bevölkerung mit nie dagewesenem Jubel empfangen worden, sollte sich die amerikanischen Zeitungen von 1859 ansehen. Die neue Welt überschlug sich vor Begeisterung. Es gab Morphy-Hüte, Morphy-Zigarren, einen Morphy-Baseballclub. Man schleifte den jungen Meister von Bankett zu Bankett. Erst jetzt erfuhr er, daß seine Landsleute seine Kämpfe in Europa atemlos verfolgt hatten, mit der gleichen Spannung, mit der sie 1972 die Berichte über den Wettkampf Spasskij-Fischer verfolgten. [...][/QUOTE]Harold C. Schonberg, Die Großmeister des Schach, Fischer Taschenbuch Verlag 1976, S. 88f.Der Psychoanalytiker Ernest Jones hat als Grund dafür in „[URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Morphy"]Stauntons schroffer Ablehnung der Person Morphys[/URL]“ ausgemacht. Ich glaube nicht daran. Zum einen war der Stern des Engländers bereits am Sinken, und zum anderen war Staunton derart unbeliebt, als daß sich ein Morphy um solch ein Werturteil hätte Sorgen machen müssen. Sonderlich viel hielt Morphy von Stauntons trockenem „[URL="http://www.schachburg.de/threads/926-Schach-im-puritanischen-England"]puritanischen[/URL]“ Stil jedenfalls nicht. So äußerte er sich 1874 anläßlich des Todes seines alten Feindes:[QUOTE]Staunton beherrschte ohne Zweifel die Theorie des Spiels lückenlos; seine analytischen Fähigkeiten waren von allerhöchstem Rang, sein Überblick, sein Verständnis waren von allerhöchstem Rang, sein Überblick, sein Verständnis für positionelle Fragen und seine allgemeine Spielerfahrung waren groß; aber alle diese Qualitäten, die zum Rüstzeug eines starken Spielers gehören, machen noch kein Genie aus ihm. Hinzu kommen müssen Phantasie und eine gewisse Erfindungsgabe oder schöpferische Kraft, mit der er sich Stellungen vorstellt und sie herbeiführt. Von dieser Gabe [sehe ich] in Stauntons veröffentlichten Partien keine Spur[/QUOTE]Ebd. S. 92Doch was war dann der Grund für Morphys Abschied vom Schach ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Als möglich, weil plausibel, erscheint mir die bekannte Hypothese, Morphy, der immer Anwalt werden wollte, und dessen Laufbahn zum Anwalt aufgrund seiner Schacherfolge verschlossen blieb, habe aufgrunddessen einen Haß auf das Schachspiel entwickelt. Dieser Haß wird aus verschiedenen Gründen motiviert. Zum einen könnte das Scheitern, seine angestrebte berufliche Laufbahn einzuschlagen, damit zusammenhängen, daß in diesen Kreisen Spieler als nicht geeignet für diesen „seriösen“ Beruf erschienen. Insofern könnte sich in Morphy das Fremdbild einer Spielernatur, der er auf keinen Fall entsprechen wollte (schon seine Preisgelder hatte er immer großzügig verschenkt) mit eben diesem Selbstbild vereinigt haben, dem er nun in der Folge immer mehr entfliehen wollte. Doch nicht immer heilt die Zeit alle Wunden. Noch unmittelbar vor seinem Tod, ja, auch heute noch, und, schlimmer, für alle Ewigkeiten wird die Welt in Paul Morphy einen Schachspieler sehen...Wie denkt ihr darüber, und habt ihr womöglich andere Erklärungen für Morphys überraschendes und damals unerklärliches Handeln?

Beitrag von zugzwang

Oh, Matthias Bröckers[url]http://de.wikipedia.org/wiki/Mathias_Br%C3%B6ckers[/url]hat sich auch mal mit Morphy befaßt:[url]http://www.broeckers.com/Schach&Paranoia.htm[/url]Irgendwo meine ich gelesen zu haben, daß bei Paul Morphy auch eine unglückliche Liebne für einen seelischen Zusammenbruch nach seiner Rückkehr aus Europa sorgte.

Beitrag von Kiffing

[QUOTE]Tiefe Skepsis und ständiges Mißtrauen gegenüber dem Offensichtlichen, große Vorsicht vor falschen Spuren und verborgenen Fallen, sowie die Kenntniss möglichst aller Fakten – diese Grundzüge des Schachs entsprechend exakt denen der Paranoia, des Verschwörungsdenkens.[/QUOTE]Das ist ja wirklich ein interessanter und origineller Text. Aber ist es nicht in jedem Spiel so, daß der andere gewinnen will und dafür gegen einen selbst arbeitet, auch mit allen möglichen raffinierten Winkelzügen, Bluffs und Täuschungen? :grübel: