Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Schach in der DDR - die verhängnisvolle Degradierung“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/2WA9ALe.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/2WA9ALe.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Integration Osteuropas in den sowjetischen Machtbereich, stellte sich aus schachlicher Sicht nun die spannende Frage, ob das Schach in den osteuropäischen Ländern eine ebenso tragende Rolle spielen würde wie beim „großen Bruder“ in Moskau. Diese Frage muß höchst ambivalent beantwortet worden. Auch Osteuropa hatte viele schachlichen Hochburgen, und so nahmen Länder wie Polen, Ungarn oder Jugoslawien das sowjetische Erbe begierig auf. In der DDR darf aber trotz hoffnungsvoller Anläufe bis 1972 dieselbe Entwicklung nicht verzeichnet werden. Es wird kolportiert, daß Staatschef Walter Ulbricht das Schach nicht besonders mochte. Und Erich Honecker hatte zum Schach überhaupt keinen Bezug. Schach war in der DDR nur eine Sportart von vielen. Es zehrte aber zunächst von der in der DDR mit deutscher Gründlichkeit angegangenen professionellen Sportförderung und dem in Deutschland ohnehin traditionellen Vereinswesen.Diese deutsche Gründlichkeit brachte für das kleine Land im Herzen von Europa tatsächlich sensationell anmutende Ergebnisse. Bei den Olympischen Spielen wurde die DDR immer besser, und [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Medaillenspiegel_der_Olympischen_Sommerspiele_1976"]1976 in Montreal[/URL] belegte die DDR schon Platz 2 im Medaillenspiegel mit 40 Goldmedaillen, 25 Silbermedaillen und 25 Bronzemedaillen. 1980 und 1984 gab in bei den Olympischen Sommerspielen eine Zäsur durch gegenseitigen Boykott der Lager im Kalten Krieg, aber [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Medaillenspiegel_der_Olympischen_Sommerspiele_1988"]1988 in Seoul[/URL] konnte die DDR ihr Ergebnis und Platz 2 mit 37 Goldmedaillen, 35 Silbermedaillen und 30 Bronzemedaillen bestätigen. Allerdings ist heute längst bestätigt, daß diese Leistung nicht nur Produkt einer hervorragenden Sportförderung und einer systematischen Erfassung der Potentiale im ganzen Land war, sondern auch auf den bereits den talentierten Kindern alles abverlangenden und auch gesundheitsschädlichen Drill sowie auf systematisches Doping zurückzuführen war, das auch heute noch in vielen Sportarten ein fast schon existenzgefährdendes Problem darstellt, das ganze Sportarten wie z. B. den Radsport in Verruf bringt. Ironischerweise waren diese gerade für solch ein kleines Land wie die DDR, dessen Bevölkerung nur ca. 0,3 Prozent der Weltbevölkerung umfaßte, schier sensationellen Erfolge bei den Olympischen Spielen dafür verantwortlich, daß es nun diese verhängnisvolle Degradierung des Schachsports in der DDR gab. Denn Schach ist bekanntlich keine Olympische Sportart, und so beschloß die DDR-Führung in den frühen 70er Jahren ihre Konzentration auf die Förderung der prestigeträchtigen olympischen Sportarten zu legen. Auf [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Schacholympiade_1974"]Wikipedia[/URL] heißt es dazu lakonisch:[QUOTE] Am 29. März 1973 beschloss der DTSB zur „Rolle der Sportverbände der DDR im internationalen Sport“, dass 25 nichtolympischen Sportarten der sogenannte Leistungsauftrag entzogen wird, wodurch die entsprechenden Sportverbände nicht mehr an „internationalen Meisterschaften und an Sportwettkämpfen mit nichtsozialistischen Ländern“ teilnehmen durften, wobei „[p]olitische und sportpolitische Gründe [...] zu Ausnahmeregelungen führen“ können. Als Begründung dazu wurde angegeben, dass „den Sportlerinnen und Sportlern die Aufgabe gestellt [wird], [...] die DDR auf der Grundlage von festgelegten Leistungszielen und Leistungsaufträgen durch hohe sportliche Leistungen würdig zu repräsentieren. Diese Konzentration auf eine bestimmte Anzahl von Sportarten macht sich notwendig infolge unserer begrenzten materiellen, ökonomischen und finanziellen Möglichkeiten, der relativ geringen Einwohnerzahl unseres Landes sowie aus kadermäßigen Erwägungen.“ Unter den genannten Sportarten war auch Schach. [/QUOTE]Das Schachspiel wurde nun wie 25 andere Sportarten in die nichtolympischen Sportarten eingeordnet und damit sportförderungstechnisch degradiert. Gerade für die Spitzenspieler der DDR bedeutete diese Degradierung eine Zäsur, denn waren es doch gerade die Wettkämpfe mit internationaler Beteiligung wie die Schacholympiaden, die im Sportlerleben besondere Höhepunkte darstellten. Der beste Schachspieler der DDR, Wolfgang Uhlmann, hat z. B. unter dieser Regelung gelitten. Uhlmann war für das Nationalteam der DDR bei den Schacholympiaden eine sichere Bank. Er nahm von 1956 – 1990 elf Mal für sein Land an Schacholympiaden teil, und er gewann 1964 in Tel Aviv sogar die [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Uhlmann"]Goldmedaille für Brett 1[/URL] bei einer Punkteausbeute von 83,3 Prozent bei 15/18 in der Finalgruppe B. Wegen der Degradierung des Schachs in der DDR mußte er 16 lange Jahre bei den Schacholympiaden pausieren. Erst 1988 bei der Schach-Olympiade in Thessaloniki gelang es dem neuen Präsidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes, Klaus Eichler, für die zukünftigen Schacholympiaden die erwähnte Ausnahmegenehmigung durchzusetzen und die DDR-Nationalmannschaft wieder an den Schach-Olympiaden mitwirken zu lassen. Doch bedeutete der „Sportleistungsbeschluß“ nicht nur die Nichtteilnahme der DDR an Schacholympiaden, sondern auch die Streichung anderer Privilegien für die stärksten Spieler der DDR. In „Sport und Politik in der DDR am Beispiel des Schachsports“ von Manuel Friedel [URL="http://books.google.de/books?id=dnMOeA7zhD8C&pg=PA39&lpg=PA39&dq=DDR+Schach-Olympiade+Nichtteilnahme&source=bl&ots=Nnv6K7eqNv&sig=M8Z4LAkhqA3yB0KzUOSpbwE6kAI&hl=de&sa=X&ei=D8O2UsmoHc3xhQfOqoHoBw&ved=0CDsQ6AEwAg#v=onepage&q=DDR%20Schach-Olympiade%20Nichtteilnahme&f=false"]heißt es[/URL]:[QUOTE]Neben dem Startverbot für Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und [Schach-]Olympiaden umfaßte das Verbot auch die Teilnahme an Turnieren im westlichen Ausland. Lediglich Wolfgang Uhlmann besaß bis 1976 noch eine kurze Zeit eine Sondergenehmigung für den Start im Ausland. Ansonsten beschränkte sich der Kontakt zum Ausland auf die Länder im sozialistischen Raum[/QUOTE]Die Zeit dieser Degradierung des Schachs hat auch der mehrmalige Landesmeister der DDR, Rainer Knaack, hautnah miterlebt. In einem [URL="http://www.rainerknaak.de/Archiv/Schach%20und%20Politik%20in%20der%20DDR.htm"]sehr persönlichen Bericht[/URL] hat er später die Auswirkungen des Beschlusses festgehalten:[QUOTE] Doch diese 60er Jahre waren schon überschattet von einer zunächst kaum wahrnehmbaren Entwicklung, die Schach immer mehr an den Rand drängte. So wurde die Zahl der oben beschriebenen „Stellen“ verkleinert. Für mich spürbarer war jedoch die beginnende Nichtteilnahme an internationalen Ereignissen, die teilweise genau in meine aufsteigende Kurve fiel. Es begann mit der Studentenmannschaftsweltmeisterschaft in Puerto Rico 1971, aber wir hofften natürlich, dass dies wegen der hohen Reisekosten eine Ausnahme wäre. Die Juniorenweltmeisterschaft in Athen 1971 beschickte die DDR auch nicht; wegen des Obristenregimes in Griechenland, hieß es. Doch das hielt die anderen sozialistischen Länder nicht ab. Schon deutlicher wurde es 1972 bei der Studenten-WM in Graz, das lag nun wirklich nicht so weit weg. [/QUOTE] Ähnlich bewegend beschrieb der langjährige DDR-Nationaltrainer Ernst Bönsch in einem [URL="http://de.chessbase.com/post/75-jahre-ernst-bnsch"]Chessbase-Interview[/URL] von 2006 seine Erfahrungen mit diesem Beschluß:[QUOTE] Spitzenleistungen im Schach beeindruckten die Sportleitung kaum. Stattdessen wurde national der Breitensport zum Ziel erklärt. Damit verband sich eine Kette von einschneidenden Folgen wie geringere finanzielle Zuwendungen, Abbruch der Förderung von talentierten Anschlusskadern, bis auf wenige Ausnahmen untersagte Teilnahme an Wettkämpfen in westlichen Ländern, keine Aufnahmen von Talenten in die Kinder- und Jugendsportschulen, Einschränkung des Altersklassensystems bei den jüngeren Jahrgängen, Verwehren von Lehrgängen an zentralen Sportschulen, Einschränkungen für Freistellungen u.a.m. Weder Argumente, Petitionen noch Anträge konnten an diesem Beschluss, der einer Beleidigung hunderttausender Sporttreibender gleichkam, etwas ändern. Proteste durften von den Presseorganen nicht gedruckt werden. Kurioserweise hatte niemand jenen „Leistungssportbeschluss“ schriftlich gesehen. Ich erfuhr ihn während einer Trainerratstagung durch Verbandstrainer Hans Platz in Leipzig. Er erläuterte ihn uns Clubtrainern mit der Maßgabe, dass wir die Details den Spielern in unseren Sportclubs/Leistungszentren weitergeben sollten.[/QUOTE]Der „Leistungssportbeschluß“ von 1973 hatte schlimme sportliche Folgen für die Spitzenspieler der DDR, die in ihrer Entwicklung gebremst wurden. Doch auch finanziell hatte der Beschluß, der ja u. a. eine konzentrierte Optimierung der gegebenen Verhältnisse auf ökonomischster Grundlage zum Ziele hatte, für die Spieler schlimme Folgen. Um das ehrgeizige Sportprogramm der DDR zu finanzieren, durften die Spieler der DDR wie auch andere Sportler auch ihre erspielten Preisgelder ab 1979 nicht mehr behalten, sondern mußten diese an den Staat abgeben. Wegen fehlender Perspektiven, sportlicher und finanzieller Art, verlor der Schachsport in der DDR massiv an Attraktivität und verlor den „Anschluß an die Weltspitze“ (Friedel). Natürlich gab es gegen diese Maßnahme viel Kritik. Wolfgang Uhlmann bezeichnete den Beschluß als „Todesstoß für die Sektion Schach“, und Ernst Bönsch sprach von einer „schachlichen Eiszeit“ (ebd.). Die bis ins Mark getroffenen Schachspieler der DDR versuchten sich mit zahlreichen Eingaben an Politbüro und DTSB zu wehren. Ernst Bönsch pries in wissenschaftlichen Arbeiten nach sowjetischem Vorbild das Schach als wunderbares Werkzeug für die Herausbildung und Veredelung der menschlichen Persönlichkeit an, und andere Schachspieler der DDR versuchten im Ausland Unterstützer für ihr Anliegen zu gewinnen. Tatsächlich reagierten das Ausland und natürlich erst Recht der große Bruder im Schachland Sowjetunion extrem irritiert auf Sportbeschluß und Auswirkungen. Es wurde nicht verstanden, warum ausgerechnet ein solch aktives Sportland wie die DDR, das noch 1960 in Leipzig die Schacholympiade ausgerichtet hatte und bei der Schacholympiade in Skopje 1972 noch den zehnten Platz erspielte, nicht mehr an den Schacholympiaden mitwirkt. Der Präsident des sowjetischen Schachverbands, Vitali Sewastjanow, Janos Kadar, Anatoli Karpov und sogar die FIDE selbst schalteten sich ein und versuchten, die DDR zu einer Umkehr ihrer Politik zu bewegen. Doch erst der Wechsel an der Spitze des DTSB von dem von Uhlmann als „Feind des Schachs“ bezeichneten Manfred Ewald zu Klaus Eichler führten zu einer Lockerung der Degradierung und zu einer Wiederteilnahme der DDR an der Schacholympiade 1988 in Thessaloniki. Doch hatten die Totenglocken für die DDR bereits zu läuten begonnen, und in der Perspektive betrachtet waren die durch den „Sportleistungsbeschluß“ von 1973 verübten Maßnahmen gegen die nichtolympischen Sportarten für das Schach in der DDR derart massiv, das von einer Zäsur ausgegangen werden muß, die derart einschneidend auf die Entwicklung des Schachs in der DDR eingewirkt hat, daß das Schach in der DDR im Rückblick in zwei Phasen aufgeteilt werden sollte: Das Schach in der DDR von 1945-1972 steht für den Aufbau schachlicher Strukturen und gewisser Achtungserfolge auch auf internationaler Ebene. Das Schach in der DDR von 1972-1990 steht für eine künstliche aus sportpolitischen Erwägungen hervorgerufene Stagnation und sogar für einen gewissen Niedergang.