Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Ruhe vor dem Sturm - das Fünfweltmeisterturnier Nottingham 1936“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/SCK2zXQ.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/SCK2zXQ.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Das Schachturnier in der Universität von Nottingham 1936 gehört zu den bedeutendsten Turnieren der Schachgeschichte. Das lag zum einen an der Qualität des Teilnehmerkreises und zum anderen an der weltpolitischen Lage in der Ruhe vor dem Sturm, in der die stärksten Spieler der Welt verstrickt waren. Was die Qualität von Nottingham 1936 angeht, so spielten dort die acht stärksten Spieler der Welt mit, und nicht nur das: mit Emanuel Lasker, Jose Raul Capablanca, Alexander Aljechin, Max Euwe und Michail Botwinnik spielten in dem Turnier gleich fünf ehemalige, aktuelle oder zukünftige Weltmeister. Der Schachhistoriker Jacques Hannak würdigte das Turnier in seiner Lasker-Biographie von 1959 als „größtes Schachturnier aller Zeiten". Hannak [URL="http://en.wikipedia.org/wiki/Nottingham_1936_chess_tournament"]wörtlich[/URL]: „when it comes to awarding the plum for the greatest chess tournament ever, in 1936, the Nottingham Tournament was certainly just that". In Nottingham 1936 war tatsächlich alles dabei. Es gab alternde Weltstars, die sich mit Nottingham für immer von der Weltbühne des Schachs verabschiedeten, und es gab aufstrebende Weltstars, denen die Zukunft gehörte, und die in diesem Turnier ihre ersten Erfahrungen sammeln konnten. Gerade was diesen zum Weltgeist gehörenden Zyklus des Werdens und Vergehens angeht, so trat er in Nottingham unverkennbar in Erscheinung. Teilnehmer waren neben den fünf Weltmeistern Reuben Fine, Samuel Reshevsky, Salo Flohr, Milan Vidmar, Efim Bogoljubov und Savielly Tartakower. Zudem erhielten mit Theodore Tylor, Conel Hugh O´Donel Alexander, George Alan Thomas und William Winter vier Spieler des Gastlandes die Startberechtigung. In dem 15 Spieler umfassenden Turnier wurde einrundig gespielt. Bei insgesamt 14 Spielen, die jeder Teilnehmer absolvieren mußte, würde es heute als langes Turnier gelten. In der damaligen Zeit aber war es vergleichsweise kurz. Bei einer ähnlichen Anzahl von Teilnehmern wurde damals auch gerne doppelrundig gespielt. Früher waren nicht nur die Schachweltmeisterschaften länger, sondern auch die Turniere.Der Turnierteilnehmer aus Jugoslawien, Milan Vidmar, hat in seinem Werk Goldene Schachzeiten die einzigartige Atmosphäre dieses Turniers eingefangen. Der Name seines Werks entspricht dabei seiner nostalgischen Auffassung. In diesen Zeiten, also in der Zeit um das Turnier von Nottingham, habe sich die Schachkunst noch mit voller Leidenschaft entfalten können. 1961 beklagt er stattdessen eine gewisse Entzauberung des Schachs durch Professionalisierung, Zeitreglement, Disziplinierung oder dem „Unwesen“ der Sekundanten, welche dieses schöne Spiel zerstören würden. Allerdings ist dies wohl eine Frage der Perspektive. 2008 beklagte etwa der deutsche Schachspieler Karl Gross (aktuell: 1900/2065) eine ähnliche Entzauberung der heutigen Zeit, die er als Referenz mit dem Schachturnier in Bad Lauterbach mit Teilnahme von Dr. Hübner, Karpov und Timman von 1977 kontrastiert. Seine Beschreibung können bei den älteren Lesern durchaus solche nostalgischen Gefühle entstehen lassen. So schreibt Gross [URL="http://schachneurotiker.blogg.de/2008/06/03/dostojewskiboticelli-und-karel-gott-als-schachmeister-noch-typen-waren/"]stimmungsvoll[/URL] und tatsächlich gegen den Zeitgeist des Selbsthasses der Schachspieler und der zahlreichen Null-Toleranz- und Anzugszwang-Blockwarte unter Spielern und Offiziellen:[QUOTE] Genau dieses unmittelbare Erlebnis, Individualisten, Charaktere, kurzum echte "Typen" bei der Denkarbeit zu beobachten, machte den Reiz der Begegnung aus. "Amüsiert zu bewundern war in Bad Lauterberg die neue Großmeistergeneration der Rocker und Beatles. Der Philippino Torre. einer der drei Karpov-Bezwinger seit 1975, verstrahlt Twen-Niedlichkeit im Jeansanzug, der Schwede Andersson spielt in einer Art Rocker-Jacke gegen den wirrhaarigen Blue-Jeans-Engländer Miles. Ein optisch besonders reizvolles Team bilden der Grandseigneur Furman und der Holländer Jan Timman, ein langmähniger Boticelli-Engel in kunstvoll vergammeltem internationalem Freizeit-Look. [/QUOTE] Zurück zu Milan Vidmar, der ähnlich hingebungsvoll über zwei Helden von Nottingham schreibt:[QUOTE]Da war vor allem der alte E. Lasker, der Mann, der unglaubliche Turniererfolge durch lange Jahrzehnte gesammelt hat, der unglaubliche Spieler, bei dem man nie wußte, woran man eigentlich ist. Man konnte z. B. von seinem großen Rivalen, S. Tarrasch, sehr viel lernen, weil er ein ganzes System der Mittelspielführung aufgebaut hat. Von Lasker konnte man nie etwas lernen. Der Grund ist sehr einfach: man kann Einfälle nicht lernen und erlernen, und Laskers Spiel war so voll von Einfällen, so voll von waghalsigen Unternehmungen, denen man es ansah, daß sie mit der eigenen überlegenen Kraft rechnen, daß noch bis heute kaum irgend jemand seine großen Partien übertroffen hat. [...]Aljechin war ein Spieler von Urgewalt, er war mehr als ein Spieler: er brannte in seinem Schachehrgeiz und in seinem Spiel. Er hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die Lasker höchstwahrscheinlich nie gekannt hat[/QUOTE]Milan Vidmar, Goldene Schachzeiten, 1960, Gruyter&Co, S. 1-3Emanuel Lasker war zum Zeitpunkt des Turniers bereits 68 Jahre alt. Zwar erzielte Lasker auch im hohen Alter noch beachtliche Resultate bei Spitzenturnieren. Der für seine schöpferische Herangehensweise bekannte Lasker, der im Sinne seiner Philosophie des Schachs die [URL="http://www.schachburg.de/threads/1020-Als-Emanuel-Lasker-den-Macheiden-schuf?highlight=Macheide"]Figur des Macheiden[/URL], des „Sohnes der Schlacht", geschaffen hatte, hatte sich auch im hohen Alter noch eine gewisse jugendliche Frische seines Spiels bewahrt. Einen ruhigen Lebensabend konnte er aber wie sein großer Rivale aus früheren Tagen, [URL="http://www.schachburg.de/threads/1289-Wege-in-die-Finsternis-das-letzte-Jahr-des-Siegbert-Tarrasch"]Siegbert Tarrasch[/URL], der zum Zeitpunkt des Turniers schon tot war, nicht mehr genießen. Wie Tarrasch war Lasker Jude, und als 1933 die Nazis die Macht in Deutschland an sich rissen, wurde der vielleicht größte deutsche Denker im Schach aller Zeiten vom Helden zum politisch Verfolgten. Die Sowjetunion war dabei nur zum Schein ein Exil. Die Sowjetunion erhoffte sich, von Lasker schachlich profitieren zu können. Ihm wurde eine Stelle als „Schachlehrer und Mathematiker für die Akademie der Wissenschaften“ (Pfleger/Treppner, Brett vorm Kopf, Leben und Züge der Schachweltmeister, Beck´sche Reihe 1994, S. 102) angeboten, und dort verfaßte er auch seine bekannte schachliche Erzählung Wie Wanja Meister wurde. Das Problem in diesem Werk war, daß Lasker, der sich zwar jeder offenen Kritik an seinem Gastland enthielt, den Namen von Stalin [URL="http://www.schachfreunde-hannover.de/literat.html"]kein einziges Mal[/URL] erwähnte. Sein Werk wurde in der UdSSR deswegen auch erst 1973 veröffentlicht. In einem Land, indem jedes Bestandteil auf Stalin selbst ausgerichtet war, kam so etwas einem Sakrileg gleich. Ein [URL="http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44449533.html"]Spiegel-Artikel[/URL] von 1950 macht dies deutlich:[QUOTE]58 Stalinköpfe prangen auf den 64 Seiten der viersprachigen Monats-Illustrierten "UDSSR im Aufbau", Stalin als Feldherr, Stalin als Freund der Kinder und der Bauern, Stalin als Brückenbauer, Stalin als Befreier im Bürgerkrieg, Stalin als Philosoph, als Wissenschaftler, als Künstler, als Staatsmann, als Lehrer der Menschheit. Der Byzantinische Götzendienst um den Georgier stellt alles in den Schatten, was deutsche Menschen an heroischen Plakatbildern von ihrem Braunauer Führer zu sehen bekamen, der ja auch unter anderem ein Kinderfreund, ein Künstler und ein genialer Feldherr war. [/QUOTE]Sicherlich war Lasker von dem generalstabsmäßigen Aufbau des Schachlebens in seinem Moskauer Exil [URL="http://www.karlonline.org/aelt301_4.htm"]beeindruckt[/URL], der etwas ähnliches in keinem westlichen Land erlebt hatte. Als Laskers Freunde und Förderer aber in dem Sog der Großen Säuberung von 1937/38 hineingezogen wurden und nach und nach verschwanden, nutzte der Schachweltmeister von 1894-1921 die erste Gelegenheit zur Flucht und konnte, finanziell „völlig mittellos“ (Garri Kasparov, Meine großen Vorkämpfer, Teil 1, Edition Olms S. 242), in den USA sein letztes Exil finden, wo er am 11.1.1941 verstarb. Damit entging er dem Schicksal unzähliger Menschen, die, vor den Nazis in die UdSSR geflüchtet, in diesem anderen Moloch ihr Leben verloren. Laskers Schwanengesang in Nottingham, der dort unter sowjetischer Flagge spielte, war ehrenvoll. In dem starken Teilnehmerfeld erreichte er Platz 8 mit einer Punkteausbeute von 8,5/14 und Tuchfühlung zur Spitze. Nur 1,5 Punkte trennten ihn von den Co-Siegern Botwinnik und Capablanca.Emanuel Lasker war nicht die einzige absolute Schachgröße aus vergangenen Zeiten, die, in Nottingham spielend, sich im Spätherbst ihrer Karriere befanden. Lange Zeit hatten Jose Raul Capablanca und Alexander Aljechin die Schachwelt dominiert, aber nach 1927 nie mehr einen Weltmeisterschaftskampf bestritten. In der Folge waren beide schlimmer verfeindet als Lasker und Tarrasch vor dem Ersten Weltkrieg. Sie wichen sich jahrelang aus, und seit ihrem Zerwürfnis nach der Schach-WM 1927 in Buenos Aires hatten sie kein einziges Turnier mehr gemeinsam bestritten. Die Schachwelt hatte ein gemeinsames Turnier der beiden geradezu herbeigesehnt, und als dies endlich zustande kam, allerdings ohne eine Versöhnung der beiden Schachmeister, wurde dies in der Schachwelt als eine Art Befreiung wahrgenommen. In Nottingham lief der Kubaner seinem großen Rivalen noch einmal den Rang ab. Nicht nur, daß er das Turnier mit 10 Punkten gemeinsam mit Botwinnik für sich entscheiden konnte und den Exilrussen auf Platz 6 (9 Punkte) verdrängen konnte. Er schlug Aljechin auch im direkten Vergleich. Trotzdem wurde der in jeder Hinsicht bislang [URL="http://www.schachburg.de/threads/1000-Jose-Raul-Capablanca-das-leuchtende-Symbol-der-Goldenen-Zwanziger"]sonnenverwöhnte[/URL] Kubaner noch zur tragischen Gestalt. Nach seiner Entthronung durch Aljechin hatte er das ernsthafte Studium im Schach wieder aufgenommen und sich sogar die neuen hypermodernen Ideen angeeignet, nach denen er nun gelegentlich spielte, und seinem vormals gelegentlich flach und wenig ambitiös wirkenden Stil neue Impulse gegeben. Sein gemeinsamer Turniersieg mit Botwinnik war insofern auch ein persönlicher Triumph für ihn selbst, daß er so wieder wettbewerbsfähig und auf der Höhe der Zeit war. Eine schreckliche Krankheit machte ihm aber einen dicken Strich durch die Rechnung. Als Pfleger und Treppner ihre Darstellungen zu dem großen Kubaner beendeten, klang dies nicht nur traurig, es war es auch:[QUOTE]Aber in erster Linie scheiterte er wohl an seiner Gesundheit. Panow spricht von ersten Anfällen der später tödlichen Gehirnsklerose, andere Quellen von einem leichten Schlaganfall, was im Ergebnis letztlich aufs Gleiche hinausläuft. Das bedeutete natürlich das Ende aller WM-Hoffnungen. In guten Phasen erzielte der Kubaner noch beachtliche Resultate, doch der Krieg beendete definitiv seine Laufbahn. Capablanca starb am 7. März 1942 in New York [/QUOTE]Pfleger/Treppner, S. 117Von den „Großen Drei“ der Vergangenheit hatte Alexander Aljechin schachlich noch die größte Zukunft vor sich. In Nottingham 1936 erreichte er allerdings nur Platz 6 und verlor gegen Capablanca im direkten Vergleich. Offenbar wurde er wieder rückfällig, „denn Botwinnik schreibt über den Aljechin von Nottingham 1936: ´Er hörte nicht auf, Wein zu trinken, die Partie gegen Reshevsky verlor er nur, weil er, nachdem die Partie abgebrochen war, nach dem Mittagessen eine Flasche Wein getrunken hatte´ “ (Pfleger, Treppner, S. 132). Aber sein Abstand zur Spitze war mit einem Punkt nur gering. Da er aber Rauchen und Trinken zumindest vorübergehend stärker als früher in den Griff bekam (er brachte zu Turnieren gelegentlich seine eigene Kuh mit, die ihm Milch lieferte), zumindest bis er 1937 unter nochmaliger Mobilisierung aller Kräfte den Revanchekampf gegen Max Euwe deutlich mit 10:4 gewann und damit die Verhältnisse wieder zurechtrückte, konnte er sich nochmal für einige Jahre ins Rampenlicht spielen. Als er 1938 beim ebenfalls legendären AVRO-Turnier 1938 in den Niederlanden zum letzten Mal auf seinen großen Rivalen Capablanca traf, konnte er diesem, ausgerechnet an dessen 50. Geburtstag, eine Null einschenken. Damit gelang Aljechin im letzten Moment noch ein Sieg gegen Capablanca in einem Schachturnier. Davor hatte er gegen Capablanca tatsächlich „nur“ in der Weltmeisterschaft 1927 gewinnen können, dafür aber gleich sechs Mal. Die persönliche Bilanz dieser beiden über Jahrzehnte überragenden Spieler lautete damit 7:7, Remisen nicht mitgerechnet. Max Euwe indes spielte für seine Verhältnisse ein starkes Turnier. Euwe trat zwar als amtierender Weltmeister an, trotzdem hielten ihn fast alle für schwächer als Aljechin, sein [URL="http://www.schachburg.de/threads/1014-Schachweltmeisterschaft-1935-Aljechins-schlimmste-Niederlage"]Titelgewinn[/URL] gegen Aljechin von vor einem Jahr wurde unisono als sensationell empfunden, und daß er diesem unter „normalen“ Verhältnissen nicht gewachsen war, zeigte sich deutlich in dem Rückkampf ein Jahr später. Max Euwe war mit 35 Jahren im besten Alter, und er erspielte sich mit 9,5 Punkten und Platz 3 in Nottingham ein beachtliches Resultat. Viel Zeit, sich auszuzeichnen, hatte er trotz seines relativ jungen Alters allerdings nicht mehr. Nur drei Jahre später kam der Zweite Dreißigjährige Krieg zu seinem schrecklichen Kulminationspunkt, und als der von den Nazis ausgelöste Weltenbrand sich über die Erde ausbreitete, fanden nur noch wenige Schachturniere statt, und in von den deutschen Besatzern ausgerichteten Turnieren anzutreten, lehnte er aus Prinzip ab (vgl. Harold C. Schonberg, Die Großmeister des Schach, Fischer-Verlag 1974, S. 193). Zum letzten Mal spielte Max Euwe auf höchstem Niveau 1946 in seiner Heimat Groningen mit. In diesem bedeutenden Nachkriegsturnier lieferte er sich mit dem neuen Führungsspieler Michail Botwinnik einen an Spannung kaum zu überbietenden Zweikampf um die Spitze und wurde von diesem nur um Haaresbreite auf Platz 2 verwiesen (Botwinnik kam auf 14,5/20, Euwe auf 14 Punkte). Es war aber sportlich sein letztes Aufbäumen. Schon zwei Jahre später, bei der Schach-WM von 1948, wurde der 46jährige nun nach allen Regeln der Kunst durchgereicht. Die Schach-WM wurde im Rundenmodus mit fünf Spielern vierrundig ausgetragen, weil die übliche Form des Duells durch den Tod des amtierenden Schachweltmeisters Aljechin hinfällig geworden war. In diesem Turnier wurde Euwe mit großem Abstand Letzter. Er kam nur auf magere 4 Punkte in 20 Spielen. Der [URL="http://www.schachburg.de/threads/1135-Schach-WM-1948-die-erste-einheitliche-Weltmeisterschaft?highlight=Schach-WM+1948"]Kommentar[/URL] von Milan Vidmar:[QUOTE] Als oberster Schiedsrichter dieses Kandidatenturniers hatte ich reichlich Gelegenheit, Euwes Abstieg zu beobachten. Der Mann interessierte mich ungemein. Gegen das Ende des Ringens um Aljechins Nachlaß, nahm ich eines Tages den einstigen Weltmeister zur Seite und fragte ihn unverblümt: „Was ist mit Ihnen los, Euwe?“ Er fand keine Antwort, aber ich fand sie: „Sie sind im kritischen Mannesalter, indem das Auge alles sehr scharf beobachtet, auch das einst für heilig, unantastbar Gehaltene. Sie glauben an kein Dogma, an keine Theorie. Sie glauben bereits sich selbst nichts mehr.“ Er war überrascht, aber doch gerne bereit, mir zu folgen: „Ich glaube tatsächlich meinen eigenen Schachkombinationen nicht mehr, deshalb habe ich auch keinen Mut mehr, sie meinen Gegnern vorzusetzen,“ gestand er. [/QUOTE]Garri Kasparov sollte später einmal schreiben, so wie der Erste Weltkrieg Capablanca an die Weltspitze spülte, sollte es später der Zweite Weltkrieg mit Botwinnik tun. Für den 25jährigen Botwinnik, der allerdings aus dem einfachen Grund nicht als jung bezeichnet werden sollte, da er schon als Kind nicht jung war, war dies sein erstes großes Turnier außerhalb der Sowjetunion. Sein Titelgewinn in Nottingham (zusammen mit Capablanca) sorgte für eine Erschütterung im Weltschach, wie es auch die damaligen teilweise schon alternden Teilnehmer sahen. Vidmar etwa schreibt rückblickend auf dieses große Turnier:[QUOTE]Nun, 12 Jahre zuvor, in Nottingham, hatten wir bereits den Eindruck, daß in M. M. Botwinnik ein unheimlicher Gast aus dem Osten in die Turnierarena eingedrungen ist. [/QUOTE]Vidmar, S. 4Für Botwinnik standen die härtesten Prüfungen seiner Karriere noch bevor, und als er 1946 den Schachthron ergriff, war auch der Siegeszug der Sowjetischen Schachschule Realität, die in der gesamten Nachrkriegszeit bis 1972 alle Schachweltmeisterschaften unter sich ausmachte. Nur bei der besagten Schach-WM von 1948, dem Rundenturnier, fanden sich im Finale noch nichtsowjetische Spieler. Daß überhaupt einmal ein den Jahren nach junger Spieler die Hierarchien der alternden Stars durcheinanderwirbeln konnte, war bereits lange Zeit überfällig. Über der Schachwelt hing 1936 eine bleierne Spannung. Die Alten sollten allmählich abdanken, aber es fehlten die Jungen, die ihren Platz einnehmen konnten. Vidmar etwa schreibt:[QUOTE]Daß im Jahre 1936, als Nottingham sein großes Fest feierte, scheinbar immer noch keine neue Generation da war, erschien fast unglaublich. Lange Jahre hindurch erwarteten wir, Vertreter der modernen Schule, einen gewaltigen jugendlichen Einbruch. Daß dieser Einbruch erst um das Jahr 1936 begann, ist eine merkwürdige Tatsache. Inzwischen waren wir natürlich schon als Vertreter der vorangehenden Generation überreif geworden[/QUOTE]Ebd. S. 5f.Das Schach stand in Nottingham unter Vorzeichen der Ideologien, die nicht nur nach zählbaren Erfolgen suchten, sondern auch Einfluß auf den Stil ihrer Vertreter nahmen. Der Schachstil sollte ein Gegengewicht zum „dekadenten“ Westen werden und die vermeintlichen Vorzüge des eigenen Systems symbolisieren. Im Deutschen Reich [URL="http://www.belkaplan.de/chess/bdg/diemer/bruns_diemer_rassist_und_antisemit.html"]formulierte[/URL] Emil Joseph Diemer die Weltanschauung des nationalsozialistischen Schachs, die in Abgrenzung zu einem von Diemer unterstellten „jüdischen Schach“ entwickelt wurde:[QUOTE] Ich sehe in dieser Angst vor der Verantwortung, vor dem Risiko, vor der großen Tat, vor dem Gefährlich-Leben den letzten Ausdruck jüdischen Einflusses auf unsere Schachjugend. Warum sollte es auch im Schach anders sein, diesem Symbol des menschlichen Lebens, dieser Parallelerscheinung zu allen menschlichen Auseinandersetzungen auf kulturellem und politischem Gebiete, als auf allen anderen Gebieten des heutigen menschlichen Daseins? Hie Kampf, hie Maginotgeist! [/QUOTE]In diesem Sinne war sein Blackmar-Diemer-Gambit quasi eine „nationalsozialistische Eröffnung“. Ein Remis war in dieser vom ersten Zug auf Kampf („Matt“ [Diemer]) angelegten Eröffnung nicht vorgesehen. Unter Opfern stößt Weiß radikal zum gegnerischen König vor, entweder er stirbt tapfer den Heldentod, oder er kommt beim „gefährlich leben“ (Diemer) zum Erfolg.Die Sowjetunion wiederum versuchte bis zu Stalins Tod einen „dialektischen Schachstil“ zu entwickeln, in dem sich zugleich die Werte und Tugenden des Neuen Sowjetmenschen wiederfinden:[QUOTE]Der Sowjetmensch sei, laut Kotov, glühender Patriot, der niemals aufgebe und dem Schach ein tiefes Verständnis entgegenbringe. Seit Beginn der dreißiger Jahre wies er wiederholt darauf hin, daß der Schachspielstil im Westen ein gänzlich anderer sei als in der Sowjetunion:„[...] the sovjet style of play in chess was held to be confident and aggressive, in contrast with the defensive, safety-first tactics ascribed in Western Masters” [D. J. Richards, Sovjet Chess, S. 66 [...]Die von Wilhelm Steinitz und Siegbert Tarrasch eingebrachten Ideen in das Schachspiel wurden als Produkte des Kapitalismus dargestellt. Kotov verallgemeinerte dies und unterstellte allen westlichen Spielern die gleiche Spielweise. Nur Aljechin und Tschigorin bescheinigte er wirkliche Kreativität. Laut Kotov repräsentierte gerade Alexander Aljechin die Charakterzüge des Sowjetmenschen. In ihm wohne der Erfindergeist, der Reichtum an Ideen, die Abneigung sowjetischer Spieler, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, und eine strenge, kritische Haltung sich selbst gegenüber [Vgl. A. Kotov, Die Sowjetische Schachschule]. Daß sich der sowjetische Schachstil demgemäß im Aufschwung, der des Westens aber im Niedergang befände sei, so Kotov, nicht verwunderlich:„Sovjet society was flourishing, its way of life approved by history, while Western capitalist society, which had played out its historical role, was dying“[/QUOTE] Dr. Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, LIT-Verlag 2003, S. 254f.In der Tat läßt das Teilnehmerfeld von 1936 bereits an einen neuen Stellvertreterkrieg im Kampfe der Systeme erinnern. Wenn in diesen Zeiten abfällig vom „Flohr-Fine-Stil“ die Rede war, und man dabei Samuel Reshevsky und seinen Hang zu schwerblütigen, geschlossenen Strukturen mitdachte, dann befanden sich diese drei Spieler im Teilnehmerfeld von Nottingham 1936. Im Prinzip erinnerte diese so fragile Welt des Jahres 1936 an die Welt, die wir in diesen Zeiten erleben, nur auf einem anderen Niveau. Im Westen Europas bereiteten sich Nazis und Faschisten auf die Weltherrschaft vor, im Osten Eurasiens dagegen sollte ein neuer Tatarensturm zur Weltrevolution führen. Der Terror wütete hüben wie drüben, wobei bis zum Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion das bestialischere System des Totalitarismus gewesen war. Wie der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder [URL="http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-79408588.html"]auf den Punkt[/URL] brachte:[QUOTE] In Butowo am Rand von Moskau hat 1937/38 ein Team von nur 12 NKWD-Männern 20 761 Menschen erschossen. So einen Mordapparat gab es in Deutschland in den dreißiger Jahren nicht. Vor dem Zweiten Weltkrieg brachte Hitler einige tausend Menschen um, aber nicht Hunderttausende wie Stalin. [/QUOTE]Allerdings würde ich die „Hunderttausende“ durch „Millionen“ ersetzen, was historisch belegt ist, was man erkennen kann, wenn man den Großen Terror, Holodomor, Entkulakisierung und die Opfer der Zwangskollektivierung der Bauernschaft zusammenfaßt.Zwischen diesen so furchtbaren Machtblöcken befanden sich überall in Europa autoritäre Gebilde, die drohten, sich einem dieser Blöcke anzuschließen oder unter dem Druck der Bevölkerung faschistisch oder kommunistisch zu werden. Die traditionelle Demokratie, von ihren Feinden als dekadent und abgewirtschaftet verstanden, war in der Defensive, und diese Haltung wurde aller Welt in der im Münchner Abkommen von 1938 kulminierenden Appeasementpolitik der Westmächte deutlich, die nicht nur Hitlers offenen Bruch des Versailler Vertrags tolerierten, sondern auch dessen zunehmenden Aggressionen unter Verletzung der Souveränität anderer Staaten hilflos zusehen mußten. Schon Spanien wurde von den schwächelnden Demokratien 1937 völlig aufgegeben, die Republik erhielt keinerlei Unterstützung, und als der Hitler nahestehende General Franco die Macht in Spanien ergreifen sollte, fiel alleine der Sowjetunion die Aufgabe zu, die Republik vor Franco zu schützen, was in einen langen Stellvertreterkrieg mündete, der schließlich mit einem Sieg der Rechten und dem endgültigen Machtantritt des Massenmörders Fulgencio Franco endete. Nottingham 1936 war ein letztes Aufflimmern der Alten Welt, die schließlich bald in einem furchtbaren Erdbeben begraben wurde, und mit ihm zahlreiche der großen alten Meister, die sich in Nottingham noch einmal zeigen konnten. Hier die [URL="http://en.wikipedia.org/wiki/Nottingham_1936_chess_tournament"]Abschlußtabelle[/URL] von Nottingham 1936. [URL="http://www.chessgames.com/perl/chess.pl?tid=79239"]Partien[/URL]:[Event "Nottingham"][Site "Nottingham ENG"][Date "1936.08.25"][EventDate "1936.08.10"][Round "13"][Result "1-0"][White "Mikhail Botvinnik"][Black "Milan Vidmar"][ECO "D60"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "47"]1. c4 {Notes by Alekhine} e6 2. Nf3 d5 3. d4 Nf6 4. Nc3 Be75. Bg5 O-O 6. e3 Nbd7 7. Bd3 {The variations starting with 7Rc1 have been so much analysed of recent years that thetext-move, though it allows the immediate ...c5, offers betterfighting chances.} c5 8. O-O cxd4 {As the Black pieces are notdeveloped so as to attack the isolated d-pawn, the betterpolicy here is the usual line 8...dxc4 9 Bxc4 a6 10 a4 Re8.}9. exd4 dxc4 10. Bxc4 Nb6 11. Bb3 Bd7 {The beginning of arisky plan, in view of Whites prospects of a K sideattack. The half-pinning of his kings knight, which seems soharmless at the moment, will in a few moves become extremelydisagreeable for Black. It was wiser therefore to clear thesituation at once by 11...Nfd5 without much danger in the nearfuture.} 12. Qd3 {! Intending, if 12...Nfd5; 13 Bc2.} Nbd513. Ne5 Bc6 14. Rad1 Nb4 {? A second mistake, after whichWhites attack becomes tremendously strong. A lesser evil was...Rc8 in order to answer 15 Qh3 with ...Nxc3 16 bxc3 Be4.}15. Qh3 Bd5 {This does not solve the problem of the defence,as White preserves his powerful kings bishop.} 16. Nxd5 Nbxd517. f4 {!} Rc8 {Or ...g6 18 Bh6 Re8 19 g4, etc.} 18. f5 exf519. Rxf5 Qd6 {? Losing immediately. The only move was ...Rc7,after which White would increase his pressure against f7 by 20Rdf1 followed eventually by Qh4 with decisive advantage.}20. Nxf7 {! Simple and neat. Black cannot avoid seriousmaterial loss.} Rxf7 21. Bxf6 Bxf6 22. Rxd5 {Much strongerthan 22 Bxd5.} Qc6 {Or 22...Bxd4+ 23 Kh1.} 23. Rd6 Qe8 24. Rd71-0[Event "Nottingham"][Site "Nottingham ENG"][Date "1936.08.11"][EventDate "1936.08.10"][Round "2"][Result "1-0"][White "Jose Raul Capablanca"][Black "Alexander Alekhine"][ECO "A92"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "75"]1. d4 e6 2. Nf3 f5 3. g3 Nf6 4. Bg2 Be7 5. O-O O-O 6. c4 Ne47. Qb3 Bf6 8. Rd1 Qe8 9. Nc3 Nc6 10. Nb5 Bd8 11. Qc2 d6 12. d5Nb4 13. Qb3 Na6 14. dxe6 Nac5 15. Qc2 Nxe6 16. Nfd4 Nxd417. Nxd4 Bf6 18. Nb5 Qe7 19. Be3 a6 20. Nd4 Bd7 21. Rac1 Rae822. b4 b6 23. Nf3 Nc3 24. Rd3 f4 25. gxf4 Bf5 26. Qd2 Bxd327. exd3 c5 28. Rxc3 Bxc3 29. Qxc3 Qf6 30. Qxf6 gxf6 31. Nd2f5 32. b5 a5 33. Nf1 Kf7 34. Ng3 Kg6 35. Bf3 Re7 36. Kf1 Kf637. Bd2 Kg6 38. a4 1-0[Event "Nottingham"][Site "Nottingham ENG"][Date "1936.08.11"][EventDate "1936.08.10"][Round "2"][Result "1-0"][White "Emanuel Lasker"][Black "Efim Bogoljubov"][ECO "D52"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "79"]1. Nf3 d5 2. c4 e6 3. d4 Nf6 4. Nc3 c6 5. Bg5 Nbd7 6. e3 Qa57. Nd2 dxc4 8. Bxf6 Nxf6 9. Nxc4 Qc7 10. Rc1 Nd5 11. Bd3 Nxc312. bxc3 Be7 13. O-O O-O 14. f4 g6 15. Ne5 Ba3 16. Rc2 f617. Nc4 Be7 18. e4 c5 19. f5 b5 20. Ne3 cxd4 21. cxd4 Qb622. Be2 Rd8 23. Rd2 Kg7 24. Bf3 Rb8 25. Kh1 a5 26. g4 a427. e5 fxe5 28. dxe5 Rxd2 29. Qxd2 Bg5 30. Re1 Bb7 31. Bxb7Qxb7+ 32. Kg1 Qf3 33. Qd4 Kh6 34. f6 Rf8 35. Ng2 Rc8 36. Qd7Rg8 37. Qf7 Qa8 38. h4 Bd2 39. Rd1 Qc8 40. Rxd2 1-0