Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Antizipierte Philidor die Französische Revolution?“

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Beitrag von Kiffing

Philidors bekanntester Ausspruch: „Die Bauern sind die Seele des Spiels“, der damit seiner Bauernlehre einen griffigen Slogan voranstellte, ist nicht nur aus sich selbst heraus interessant, sondern auch im Kontext seiner Zeit. Aus sich selbst heraus interessant ist er, weil er damit der Vorreiter einer schachlichen Teildisziplin gewesen war, die sich seither, in Lehrbüchern verbreitet, den Bauernstrukturen und den daraus abgeleiteten Spielstrategien widmet; modern formuliert könnte man auch sagen: Bauern geben dem Spiel die Struktur.Im Kontext der Zeit hingegen ist dieser Ausspruch deswegen interessant, weil der aus adeligen Verhältnissen stammende Philidor ein Kind aus der Zeit der Aufklärung gewesen war, der im Café de la Regence mit Aufklärern wie Diderot, Rousseau oder Robespierre zusammenlebte, den Zeitgeist einatmete und mit den Ideen der Aufklärung vertraut wurde. An seinem Lebensabend die Französische Revolution miterlebend und in der Zeit des Schreckens ins englische Exil gezwungen, starb er 1795 ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem die französische Nationalversammlung seine Begnadigung beschlossen hatte und die er so knapp nicht mehr miterleben konnte. In diesem Thread soll darüber diskutiert werden, ob Philidors Ausspruch sich rein auf die Schachlehre reduzierte, oder ob er damit die sozialen Ideen der Revolution bewußt vorwegnahm, die insofern aus dem Mikrokosmos des Schachspiels in den Makrokosmos der übrigen Welt herausgestrahlt hätten bzw. mit dieser rückkoppelten. Philidor muß die sozialen Ideen der Französischen Revolution nicht einmal geteilt haben, wie der Schachhistoriker Dr. Edmund Bruns festgestellt hatte, reichte es schon aus, daß er diese gekannt hatte und somit als Kind seiner Zeit in seine Überlegungen einbauen konnte (vgl. Dr. Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte, LIT-Verlag 2003, S. 18ff.). Ich persönlich würde Philidors Bauernlehre mitsamt der mit ihr verbundenen Erhöhung der Bauern von reinem Kanonenfutter hin zu gestaltenden Protagonisten ihrer Spielwelt nicht als eine rein auf das Schach bezogene Lehre betrachten, sondern als interessantes Stück Zeitgeschichte, zumal es in seiner Zeit nicht nur diese aufklärerischen sozialen Ideen gegeben hatte, die wir leicht auf einen Nenner zu bringen vermögen, sondern durchaus auch wissenschaftliche ökonomische Diskussionen, in denen der Bauer nicht mehr als geknechtetes Wesen begriffen wurde, sondern als wichtiges Mitglied der Gesellschaft. Dr. Edmund Bruns wies an dieser Stelle darauf hin, daß es in dieser Zeit in Frankreich mit den Ökonomisten und Physiokraten Wirtschaftsgelehrte gegeben hatte, welche bereits vor Philidors „Lehre des Schachspiels“ die Lehre vertreten hatten, daß die Bauern die Seele der Wirtschaft seien. So vertrat ihr „Wortführer“ Francois Quesnay (1694-1774), der schon zu Lebzeiten der Konfuzius Europas genannt wurde, in seinem Hauptwerk „tableau économique“ die Ansicht, daß nicht die Produktivkräfte, sondern die Bauern diejenigen seien, welche in der Staatsökonomie die größte Bedeutung hätten, daß nicht die Produktivkräfte, sondern sie es seien, welche als einzige in der Lage dazu waren, die Gesellschaft zu ernähren, womit der Grundbesitz in Frankreich wieder an Bedeutung dazugewinnen konnte. Vielleicht habt ihr auch eher arme, geknechtete Bauern im Kopf, wenn ihr an Bauern in der damaligen Zeit denkt. Hier sei allerdings darauf verwiesen, daß zum einen Großgrundbesitzer durchaus auch als Bauern bezeichnet werden konnten, denen in Zeiten vor den Ideen der Bodenreform die Aufgabe zukam, eine große Fläche Boden so zu verwalten, daß sie die Gesellschaft ernähren können; ein Springer steht symbolisch auf dem Schachbrett auch nicht für ein einzelnes Pferd, sondern für eine Militäreinheit der Kavallerie. Zum anderen waren diejenigen, welche die Französische Revolution vorantrieben, auch keine verarmten Bauern, die als Analphabeten zwar in der Lage dazu gewesen waren, aufgrund ihrer sozialen Lage Gefühle wie Wut und Haß zu empfinden und aufgespießte Köpfe von Vertretern des ancient regimes johlend über die Straßen zu schleifen, aber nicht, in Revolution und nachrevolutionärer Gesellschaft eine Führungsrolle zu übernehmen. Hinzu kommt, daß es in der Revolution selbst zwar durchaus Theoretiker gegeben hatte, welche auf Frankreich (früh-)sozialistische Ideen verwirklichen wollten. Diese wurden, um eine Übertragung auf die viel spätere bolschewistische „Oktoberrevolution“ von 1917 vorzunehmen, aber als eine Art „Linksabweichler“ von Robespierre, der sich wie später Stalin als „Mann der Mitte“, d. h. als Mann des Ausgleichs und der Vernunft, präsentieren konnte, ebenso wie die „Rechtsabweichler“, d. h. jene, die sich in diesen Tagen mit einer konstitutionellen Monarchie begnügt hatten und denen dessen Reformen zu radikal waren, an den Rand gedrängt und ausgeschaltet.Insofern ist m. E. Philidors berühmter Ausspruch so zu verstehen, daß dieser bei seinen Bauern, welche die Seele des Spiels seien, eher an vermögende Großbauern gedacht hatte, die über Grund und Boden verfügten und damit wiederum über Arbeitskräfte, die diesen Boden bewirtschafteten. Diese waren für ihn als Seele der Wirtschaft auch die Seele des Schachspiels. Wie denkt ihr darüber?PS.: In den Revolutionstagen kursierten sogar Vorschläge, das Schachspiel als solches nach den Ideen der Revolution umzugestalten, was den Präsidenten einer französischen Schachgesellschaft mit einer bemerkenswerten Satire auf den Plan rief: [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.schachburg.de/threads/976-Ein-Reformvorschlag-nach-der-Französischen-Revolution". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://www.schachburg.de/threads/976-E ... Revolution" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.]

Beitrag von Qf3

In den frühen Tagen vor Philidor wurde Schach in Europa noch unter anderen Gesichtspunkten gespielt.Gesunde Bauernstrukturen und langfristige positionelle Vorteile waren eher zweitrangig. Es ging vorrangig um Figurenspiel, Kombinationen und Angriff; vor allem direkten Königsangriff. Für einen Angriff wurde die Bauernstruktur vernachlässigt und auch ohne große Bedenken Bauern geopfert. Dann kamen Spieler wie Philidor, die neue Ideen brachten, bzw. alte Ideen wieder hervorkramten. Nämlich, dass Bauern nicht nur Kanonenfutter waren oder zum Decken einzelner Felder bestimmt waren, sondern, dass die Bauernstruktur eben das Spiel bestimmt. Rückständige Bauern, schwache Felder, Karlsbader Struktur etc. und die daraus resultierende langfristige Strategie. Also ich beziehe seinen Ausspruch eher auf die rein schachlichen Gegebenheiten.Aber warum sollte nicht der einfache Bauer als Seele des Spiels bzw. im übertragenen Sinne als Seele der Produktivität bzw. als Seele des Staates angesehen werden. Damit kann ich mich anfreunden. Ich sehe nur keine Notwendigkeit, Großgrundbesitzer zwischenzuschalten. Unabhängig davon wem das Land gehörte, waren es die einfachen Bauern und Landarbeiter, die es bewirtschafteten. Ich finde es sogar ganz sympathisch, dass auch das niedere Volk einen entscheidenen Platz auf und neben dem Schachbrett hatte. Auch die SchachFiguren erinnern ja eher an den einfachen Bauern und nicht an den Großgrundbesitzer. Während die anderen Figuren alle relativ groß sind und auch relativ detailreich ausgearbeitet sind, sind die Bauern im Vergleich sehr klein und auch relativ gesichtslos. Das passt eher nicht zum Bild der Großgrundbesitzer.Aber letztlich ist das meine Sicht der Dinge. Was Philidor tatsächlich dachte, weiß er wohl nur selbst. Soweit ich weiß, hat Philidor auch selbst Bücher geschrieben. Weiß jemand, ob es da Hinweise auf Philidors Verknüpfungen zwischen Spielfiguren und Gesellschaft gibt? Letztlich ist es aber ja auch unerheblich. Das ist ja auch das schöne am Schach; dass es neben den schach-logischen Zwängen viel Raum für eigene Interpretationen und Spielweisen gibt. Und eben auch Interpretationsmöglichkeiten, welche Verknüpfungen man zwischen den Schachfiguren und der Gesellschaft anstellt.

Beitrag von Kiffing

[QUOTE=Qf3] Und eben auch Interpretationsmöglichkeiten, welche Verknüpfungen man zwischen den Schachfiguren und der Gesellschaft anstellt. [/QUOTE]Das stimmt, diese Eindeutigkeit war m. E. zumindest im alten Tschaturanga mit der im Spiel symbolisierten Viergliedrigkeit des spätantiken indischen Heeres gegeben, die nach den Reformen an der Schwelle zur frühen Neuzeit natürlich verlorenging, was nicht nur ein Nachteil des Schachs gewesen ist. Was Philidor angeht, so war er auf der einen Seite natürlich ein Produkt des damals blühenden Schachlebens in Frankreich gewesen, der von den schachfreundlichen Strukturen im Land rund um das Café de la Regence profitierte. Auf der anderen Seite war er aber schon ein Unikum gewesen, dessen positionelle Entdeckungen mehr als ein Jahrhundert zu früh kamen, weil seine Zeitgenossen außerstande gewesen seien, diese zu würdigen und in ihrer Substanz einordnen zu können. Dr. Kurt G. Köhler etwa weist in seinem aktuellen Philidorwerk darauf hin, daß Steinitz sehr viel später die Ideen von Philidor lediglich plagiiert habe, die aber nun wiederum aufgrund der Weiterentwicklung des Schachs auf fruchtbaren Boden stoßen konnten. Dies mag ein hartes Urteil sein angesichts der jahrelangen Forschungen Steinitzens gegenüber dem Schach, aber ändert nichts an der grundsätzlichen Verschiedenheit, wie die Zeitgenossen Philidors und Steinitzens die jeweilige Positionslehre auffaßten. Ob Philidor nun einfache Bauern oder Großgrundbesitzer gemeint hat, dazu braucht es diesbezügliche Quellen. Und ohne diese können wir lediglich auf Basis allgemeinerer Quellen in dieser Zeit Vermutungen anstellen. So trägt zur Klärung sicherlich die Frage bei, wie die Bauern im damaligen Frankreich angesehen waren. Die Französische Revolution war im Kern keine proletarische bzw. plebejische Revolution, sondern eine bürgerliche Revolution, wo sich das aufstrebende Bürgertum Macht, Einfluß und generell wichtige gesellschaftliche Positionen erkämpfte, die Adel und Klerus, welche nur etwa ein Prozent der französischen Bevölkerung umfaßten, besetzten. Damit verbunden war natürlich ein gewisser Wertewandel, also ein Wandel jener Werte, die Karl Marx sehr viel später als den gesellschaftlichen Überbau bezeichnete, der über der Basis, d. h. den materiellen Verhältnissen einer Nation schwebe. Es sei gesagt, daß sich der dritte Stand, der sich später im Zuge der Revolution in Versailles zum einzigen legitimierten Stand erklärte, ausschließlich aus Gebildeten und Vermögenden rekrutierte, während erst in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die auch pekuniär an den Rand Gedrängten allmählich zum einflußreichen Faktor der Geschichte wurden, die in den europäischen Revolutionsjahren von 1848/49 bereits eine gewisse Rolle spielen konnten. Als Vorläufer jener Rebellionen sei der Schlesische Weberaufstand 1844 genannt oder die in diesen Zeiten beginnende Bewegung der Maschinenstürmer. Was aber den Stand der Bauern in der Gesellschaft zu Philidors Zeiten anbelangt, so sei auf den zu dessem Lebensabend vollzogenen Vendee-Aufstand von 1793 - 1796 verwiesen, der in eine Abschlachtung der aufständischen Bauern einmündete, die wiederum keinen Vergleich mit denen in den feudalistischen deutschen Landen zu Luthers Zeiten zu scheuen bräuchte.