Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Perfektionismus vs. Genialität“

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Beitrag von Kiffing

In den allermeisten Sportarten gibt es zwei Schulen, die sozusagen nebeneinander existieren und sich einen ständigen Wettstreit darüber liefern, welcher „Masterplan“ der richtige ist. Gerade im Schach mit seinem breiten Spielraum für das eigene Können, ist dieser Wettstreit besonders ausgeprägt. Es sind dies die Schulen des Perfektionismus und der Genialität. Ihre Spielphilosophien unterscheiden sich dabei fundamental voneinander, die allermeisten Schachspieler gehören, teilweise ohne es zu wissen, einer der beiden Schulen an.Wer Schachspieler der perfektionistischen Philosophie ist, der denkt, wenn man selber perfekt spielt, wird man den größten Erfolg haben. Entweder endet die Partie dann bei perfektem Spiel auch des Gegners Remis, oder man gewinnt durch einen gegnerischen Fehler. In der Zeit von Jose Raul Capablanca, der dieser Schule zuzuordnen ist, grassierte in der Schachwelt die Angst vor dem Remistod. Man glaubte auch, der Mensch sei in der Lage dazu, wirklich perfekt zu spielen. Wer dagegen der anderen Denkschule angehört, der Denkschule der Genialität, der versucht in seinem Spiel die Komplexität zu erhöhen und den Gegner vor solche Probleme zu stellen, daß er sie nicht lösen kann. Das geschieht auch gerne einmal durch objektiv nicht die stärksten Züge, die Züge werden nicht sosehr daran gemessen, wie gut sie sind, sondern wie erfolgreich sie sind. Sie sind auf die Persönlichkeit des Gegners abgestimmt, auf seine Stärken und Schwächen. Emanuel Lasker und Michail Tal konnten sowas ganz gut.Sinnbildlich für diese Form der Herangehensweise steht folgendes Talsche Zitat:[QUOTE]Du musst Deinen Gegner in einen tiefen dunklen Wald führen wo 2+2=5 ist und wo der Weg, der wieder hinausführt, nur breit genug für einen ist[/QUOTE]Und das scheint mir auch der größte Unterschied zwischen beiden Denkschulen zu sein. Während ein wahrer Perfektionist den Wert des Schachspiels nur in seiner Fehlervermeidung zu erkennen meint, sind sich die Anhänger der Genialität der immensen schöpferischen Bandbreite des Schachs bewußt. Sie sind sich bewußt, daß das Schachspiel mit steigender Schwierigkeit Potentiale beansprucht, die weit über das menschliche Fassungsvermögen hinausgehen. Sich mit steigender Spielstärke dieser Potentiale zu bedienen, das ist für einen Anhänger der genialistischen Schule der Weg zum Erfolg. Wie denkt ihr darüber?

Beitrag von hako

Ich sehe nicht ganz den Sinn, so etwas zu klassifizieren. Sicher kann man sich mit einen von den beiden besser identifizieren, als mit dem anderen. Aber braucht man nicht letzten Endes beides?Die Pole Fehlervermeidung und Komplexität ergänzen sich eigentlich mehr, als dass sie sich abstoßen. Erst einmal erhöhe ich zwar mit Komplexität meine Fehlerrisiko und wenn ich das nicht eingehen will, spiele ich nicht so komplex. Aber der, der die Komplexität liebt, braucht auch den Durchblick und muss somit auch lernen, Fehler zu vermeiden. Anderesrum wird der, der Fehler nur vermeidet, und darauf wartet, dass der Gegner einen Fehler macht, nie etwas wagen, und somit auch nur deutlich schwächere besiegen können.Somit finde ich, dass eine "Reinform" dieser beiden Pole sich gar nicht halten kann bzw. ziemlich schwachsinnig ist. Auch hier gilt der Spruch: "Die Dosis macht das Gift."

Beitrag von Kiffing

Ist halt so wie mit dem Positions- und dem Kombinationsspieler. In Reinform gibt es sie nicht, aber viele Schachspieler haben durchaus eine Tendenz.

Beitrag von hako

Ich würde schon sagen jeder :)Jeder hat halt seinen eigenen Stil, ist auch besser so (sonst wäre es ja auch langweilig ;))

Beitrag von Kleinmeister

Ich denke kein Top-GM oder WM wählt wirklich wissentlich den objektiven schlechteren Zug als den Besten in einer Stellung, sofern er nicht gegen DEUTLICH schwächere Gegner spielt, die Stellung hoffnunglos verloren ist und nur mit einem schlechten Zug noch Schummelchancen verbleiben oder wenn er in einer Ko-Partie um JEDEN Preis gewinnen muss. Tal, Lasker und Kasparov wählten oft "schwierige" Fortsetzungen, aber in meinen Augen nur, wenn ihre Intuition ihnen nahelegt(e), dass die Stellung gut ist und Chancen bietet. Wenn es einen objektiv stärkeren Zug gab, und sie ihn gesehen haben, dann haben sie ihn gespielt! Aber hinterher zu sagen "man wolle den Gegner vor Probleme stellen" fällt einfacher als zu sagen : "ich hab den besten Zug nicht richtig berechnet!"

Beitrag von ficus

[QUOTE=Kleinmeister;15680]Ich denke kein Top-GM oder WM wählt wirklich wissentlich den objektiven schlechteren Zug als den Besten in einer Stellung, sofern er nicht gegen DEUTLICH schwächere Gegner spielt, die Stellung hoffnunglos verloren ist und nur mit einem schlechten Zug noch Schummelchancen verbleiben oder wenn er in einer Ko-Partie um JEDEN Preis gewinnen muss. Tal, Lasker und Kasparov wählten oft "schwierige" Fortsetzungen, aber in meinen Augen nur, wenn ihre Intuition ihnen nahelegt(e), dass die Stellung gut ist und Chancen bietet. Wenn es einen objektiv stärkeren Zug gab, und sie ihn gesehen haben, dann haben sie ihn gespielt! Aber hinterher zu sagen "man wolle den Gegner vor Probleme stellen" fällt einfacher als zu sagen : "ich hab den besten Zug nicht richtig berechnet!"[/QUOTE]Naturgemäß hat jeder Weltmeister durch seine Züge die Stellungen herbeigeführt, mit denen er am besten agieren konnte. Tal hat häufig unüberschaubare aktive Fortsetzungen gewählt, Spassky hat auch des öfteren nicht völlig korrekte Gambiteröffnungen gewählt, während bsw. Petrosian häufig "passivere" Fortsetzungen gewählt hat. Besonders letzterer galt auch als fantastischer Taktiker, der sich aber trotzdem lieber solide aufgebaut hat, weil ihm diese Stellungen einfach besser gefielen/lagen.Dazu fällt mir auch ein Zitat von Bronstein über Petrosian ein:"Die Theorie besagt, dass dieser Zug dem Schwarzen ein beengtes Spiel gibt. Wenn ein Spieler aus einer solchen beengten Position aber bessere Ergebnisse erzielt als aus einer offenen, warum soll er sich dann für die offene entscheiden?"Lasker hingegen hat sehr häufig versucht, Positionen aufs Brett zu bekommen, die dem Gegner nicht lagen; er hat als einer der Ersten auch den psychologischen Punkt im Schach erfasst. Keiner dieser Meister hat freiwillig in eine chancenlose schlechte Stellung abgewickelt, wenn hingegen der objektiv beste Zug zu einer ungewünschten Art von Position, oder ein objektiv schlechterer zu einer chancenreicheren Stellung, führte, wurde sehr häufig auch ein schlechterer aber für das jeweilige Spiel geeigneterer Zug gewählt.Von daher denke ich schon, dass viele Meister gegen gleichrangige Gegner bewusst häufig auch objektiv schlechtere, aber chancenreichere Fortsetzungen gewählt haben.(man denke an Tals Matchpartien gegen Botwinnik, an Laskers Partien gegen Tarrasch, Spasskys Nilpferderöffnung im WM-Match gegen Petrosian, seine Königsgambite gegen Fischer und Bronstein, Carlsens Partien heutzutage usw.)