Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Der kurze Frühling von Philidor“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/795S5na.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/795S5na.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Francois Andre Danican, den wir alle unter dem so klangvollen Namen Philidor kennen, war eigentlich ein großer Musiker, den es aber immer zum Schachspiele hingezogen hat. Überhaupt scheint es irgendwie eine Verwandtschaft zwischen dem Schachspiel und der Musik zu geben, denn wir kennen viele Meister, die auch vortreffliche Musiker gewesen sind. Neben Philidor waren so z. B. Mark Taimanov und Wassili Smyslow leidenschaftliche Musiker gewesen, und wenn wir sehen, wie Smyslow für das Schach so gerne den Begriff aus der Musik, nämlich „Harmonie“ verwendete, für den der eher nüchterne Schachspieler lieber „Koordination“ sagen würde, ahnen wir schon, woran das liegen könnte.Gelebt hat Philidor von 1726 bis 1795 und damit genau in der Zeit, in der die geistige Strömung der Aufklärung wirkte, die u. a. in die Französische Revolution führte, die Philidor noch miterlebt hatte. In diesem Thread soll es nun darum gehen, inwiefern zum ersten Male die Gedanken der Aufklärung augenfällig in das Schachspiel eindrangen und warum der so eigentümliche Stil Philidors trotz des großen Erfolgs, den er damit hatte, nicht weiterverfolgt wurde, so daß wir hier den interessanten Befund haben, daß hier ein Einziger einen ganzen Stil geprägt hat, der gleichermaßen nur ein Ein-Mann-Stil gewesen ist, eine One-Man-Show also, die aber verblüffend gut gespielt wurde.Strenggenommen kam Philidor zwar aus adligem Hause, aber den gesellschaftlichen Einflüssen und Diskussionen konnte und wollte er sich nicht entziehen. Dafür bürgt schon die Tatsache, daß Philidor, als Spieler im Cafe de la Regence angestellt und dort Stammgast, dort mit vielen Aufklärern wie Rousseau, Voltaire, Robespierre oder Denis Diderot verkehrte. Letztgenannter war der Autor der großen Enzyklopädie des Wissens, mit dem Philidor sogar eine regelrechte Freundschaft pflegte.Nachdem Philidor in London 1747 den Syrer Stamma mit 8:2 trotz Handycaps (Stamma erhielt immer Weiß und Remis zählten wie Niederlagen für Philidor, weswegen das Match strenggenommen 8,5-1,5 ausging) und kurz darauf seinen berühmten Schachlehrer Legal schlug, galt er bereits als stärkster Spieler der Welt. Sein theoretisches Werk L´Analyse des echecs ist heute noch ein Klassiker. Mit dieser Niederschrift folgte Philidor den Vorkämpfern der Aufklärung, welche die Menschen nicht mehr als passive und unwissende Untertanen sahen, sondern ihnen soviel Wissen wie möglich mitgeben wollten, damit sie die Welt erkennen und verändern konnten. Es war die Zeit, an der auch Philidors Freund Denis Diderot zusammen mit Mitstreitern gerade an seinem großen Gemeinschaftswerk der Enzyklopädie arbeitete, mit denen sie die Menschen mit dem zeitgenössischen Wissensschatz vertraut machen wollten. Diesen Zusammenhang stellt auch Vladimir Velminski in seinem Werk Form, Zahl, Symbol, Leonhard Eulers Strategien der Anschaulichkeit her, der [URL="http://books.google.de/books?id=KSf6XHSyAhoC&pg=PA176&lpg=PA176&dq=Philidor+systematisieren&source=bl&ots=OkStjHOxAA&sig=cWWc4cdaaUOqSdGpaIgaBYF1MVw&hl=de&sa=X&ei=9jJnULDKFc3asgbY8YDICQ&ved=0CCUQ6AEwAQ#v=onepage&q=Philidor%20systematisieren&f=false"]ausführt[/URL]: [QUOTE]Unterstützt wurde die Verehrung Philidors in der Wissenschaftskultur durch sein Buch L´Analyse des echecs, das bereits zwei Jahre vor dem ersten Band der Enzyklopädie erschienen war und zeigte, wie stark Philidor von den Ideen geprägt war, die er in den Pariser Schachcafes kennengelernt hatte. So wie die Enzyklopädie, das große Kollektivwerk der Aufklärung, einen Schritt auf den Weg zur Verwirklichung des Leibnizschen Projekts einer Universalenzyklopädie darstellte, so verfolgte auch Philidors Schachtheorie das Ziel der Aufklärung: das Sichtbarmachen grundlegender Prinzipien in der Beschaffenheit der Dinge [/QUOTE]Neben Diderot sieht H. C. Opfermann in Rene Descartes noch einen weiteren großen Denker als Wegbereiter Philidors, der zwar noch nicht unbedingt der Aufklärung zugeordnet werden kann, wohl aber der Neuzeit. Bruns läßt Opfermann ausführen:[QUOTE]Die Beweisführung, die Philidor, von seinem Ansatz ausgehend, theoretisch und praktisch durch Analyse und Schachkämpfe anbot, führte er allerdings so streng, wie ihm das als musikalischen Künstler, dem die Mathematik nur als untergeordnete Hilfswissenschaft galt, möglich war, im Geiste Descartes´ durch. Insoweit ist das Urteil Dr. Euwes vom Übergang der „euklidischen Beobachtung zum schrankenlosen Raum cartesianischer Ideen“ als Funktionsbestandteil der Philidorschen Spieltheorie berechtigt. [...]Die bedingungslose Vereinheitlichung der Welt mit Hilfe logisch-mathematischer Ableitungen entsprach im Barock so eindeutig dem Wirken des allgemeinen Zeitgeistes, daß der Wesenszusammenhang ganz selbstverständlich ist. Sobald Philidor begann, in philosophischer Weise über die Schach-Welt nachzudenken, suchte er ganz zeitgerecht nach dem allumfassenden Einheitsprinzip, das allen Schach-„Modi“ gesetzmäßig innewohnte, und heraus sprang das einfachste Wirkungsprinzip auf dem abstrahierten Schachbrett der Schach-Wirkungswelt, der abstrahierte Bauer[/QUOTE]Philidor ist der erste gewesen, der sozusagen das Herz der Schachspieler zähmen und durch den Verstand ersetzen wollte. Er versuchte, dem Wesen des Schachspiels auf den Grund zu gehen, leistete Wegweisendes im Endspiel wie die Philidor-Stellung und seine Mattführung bei Turm und Läufer gegen Turm und stellte viele positionelle Grundlagen auf, die den Menschen damals noch fremd waren. Er ging etwa auf ein gesundes Positionsspiel und Stellung der Figuren ein (z. B. starke und schwache Läufer), führte zahlreiche statische Elemente in die Schachkunst ein wie Schwächen oder isolierte und rückständige Bauern und kreierte Eröffnungen wie die nach ihm benannte Philidor-Verteidigung und das Läuferspiel, die seinem System gerecht wurden. Ganz besonders wichtig aber waren Philidor die Bauern, die nach seiner Aussage „die Seele des Schachspiels“ waren. Als „oberstes Ziel betrachtete er das Formieren und Vorrücken einer Bauernphalanx“ (Pfleger, Treppner, Brett vorm Kopf, Leben und Züge der Schachweltmeister, C.H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1994, S. 15). Philidor war auch berühmt für seine simultanen Blindpartien, die damals viele Menschen in Erstaunen versetzten. Allerdings mischte sich unter das Erstaunen auch so etwas wie Besorgnis, denn die Meinung, daß Blindschach gesundheitsschädlich sein könnte, war damals weitverbreitet. So warnte ihn sein Freund Diderot:[QUOTE]Ich wäre eher bereit, ihnen diese gefährlichen Experimente nachzusehen, wenn sie genug eingesetzt hätten, um fünf- oder sechshundert Guineen zu gewinnen. Aber ihr Talent und ihren Verstand für nichts und wieder nichts aufs Spiel zu setzen, ist einfach unvorstellbar... Nehmen sie meinen Rat an, schreiben Sie weiter schöne Musik für uns, schreiben Sie diese noch viele Jahre lang und setzen Sie sich nicht fürderhin der Möglichkeit aus, zum Gespött zu werden, wozu so viele Menschen geboren sind. Sonst wird man höchstens von Ihnen sagen: Da ist der Philidor, diese Kreatur, er ist ein Nichts, er hat allen Verstand, den er besaß, verloren, indem er Holzklötzchen über ein Schachbrett schob.“ [/QUOTE](Ebd. S. 14)Dadurch, daß sich Philidor so gründlich dem Positionsspiel widmete, alles, was auf dem Brett geschah, einem höheren System unterordnete und dieses System veröffentlichte, kann Philidor durchaus als Vorläufer von Wilhelm Steinitz gesehen werden, und nicht zufällig baute Steinitz´ System auch auf Ideen von Philidor auf. Wie wir später sehen werden, werden die beiden noch mehr Gemeinsamkeiten gehabt haben. So war beiden etwa ähnlich, daß sie beide kein Wasser predigten und Wein tranken, sondern daß sie in ihrem Spiel auch von ihrem System lebten und ihren Stil ihrem System anpaßten. Hier sehen wir z. B. eine typische Philidor-Partie (Blindsimultan):[Event "Blindfold simul"][Site "London, England"][Date "1783.??.??"][Round "?"][White "John M Bruehl"][Black "François André Philidor"][Result "0-1"][ECO "C23"][PlyCount "94"][EventDate "1783.??.??"]1. e4 e5 2. Bc4 c6 3. Qe2 d6 4. c3 f5 5. d3 Nf6 6. exf5 Bxf5 7. d4 e4 8. Bg5 d59. Bb3 Bd6 10. Nd2 Nbd7 11. h3 h6 12. Be3 Qe7 13. f4 h5 14. c4 a6 15. cxd5 cxd516. Qf2 O-O 17. Ne2 b5 18. O-O Nb6 19. Ng3 g6 20. Rac1 Nc4 21. Nxf5 gxf5 22.Qg3+ Qg7 23. Qxg7+ Kxg7 24. Bxc4 bxc4 25. g3 Rab8 26. b3 Ba3 27. Rc2 cxb3 28.axb3 Rfc8 29. Rxc8 Rxc8 30. Ra1 Bb4 31. Rxa6 Rc3 32. Kf2 Rd3 33. Ra2 Bxd2 34.Rxd2 Rxb3 35. Rc2 h4 36. Rc7+ Kg6 37. gxh4 Nh5 38. Rd7 Nxf4 39. Bxf4 Rf3+ 40.Kg2 Rxf4 41. Rxd5 Rf3 42. Rd8 Rd3 43. d5 f4 44. d6 Rd2+ 45. Kf1 Kf7 46. h5 e347. h6 f3 0-1In diesem Ideengebäude von Philidor sehen wir noch weitere Aspekte der Aufklärung, die da in das Schachspiel hineingetragen wurden. So könnte man die neue Rolle der Bauern, die bis daher lediglich als Kanonenfutter für die anderen Figuren dienten, als Vorbote der Revolution sehen oder, weniger martialisch, daß endlich erkannt wurde, daß auch die kleinen Glieder einer Gesellschaft ihren Wert haben.Einen anderen Einfluß der Aufklärung auf das Wirken Philidors sieht der Schachhistoriker, Dr. Edmund Bruns:[QUOTE]Er berief sich wie die Aufklärung auf logisches und klares Denken und reduzierte sein Spiel auf ein trockenes, mechanisches Verfahren[/QUOTE]Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, LIT-Verlag 2003, S. 19In diesem kleinen Satz steckt sehr viel Substanz, sind hier doch die der Aufklärung verpflichtende Ratio angesprochen ebenso wie die Dominanz des Kopfes gegenüber dem Herz, was die Protagonisten des Sturm und Drangs bzw., etwas später und wesentlich weitspannender, die Romantiker auf den Plan rief.Doch wie oben schon erwähnt, war das System Philidors kein System, das viele Anhänger fand. Im Prinzip hat von den großen Meistern seiner Zeit, aber auch danach keiner so gespielt wie er. Warum das so war, hat mehrere Gründe, auf die hier ausführlich eingegangen werden soll. Im günstigsten Fall waren die Reaktionen der Schachwelt auf Philidor gespalten, wie Veliminski ausführt:[QUOTE]Philidors Anlehnung an die Analysis, nach der er sein Spiel auslegte, rief unter den Vertretern der romantischen italienischen Schachschule Kritik hervor; der Spieler und Theoretiker sei mechanisch, also seelenlos (Heinse). Diese Einschätzung stand konträr derjenigen, die Schach als Wissenschaft betrachteten, denn „am meisten entsprechen jene Spiele der Wissenschaft, die allein der Kunst und keinerlei Zufall ihr Ergebnis verdanken. Unter ihnen ragt das Schach oder königliche Spiel hervor, wo je zwei Könige, Legaten, Tribunen, Reiter und die Fußsoldaten sich in einer Schlacht messen“ (Leibniz). [/QUOTE]Zwar konnten durchaus einige Aufklärer an der Spielweise Philidors Gefallen finden, im Prinzip aber war sie unpopulär, und einfach draufloszustürmen, machte schließlich ungleich mehr Spaß und war auch einfacher als das System Philidors, das sich ja gerade durch eine gedankliche Tiefe und Komplexität auszeichnete. Zudem leistete sich Philidor eine gewisse Übergeneralisierung, der oft so sehr in sein System verliebt war, daß sein Spiel an einer mangelnden Flexibilität krankte, so daß er dazu neigte, viele Gelegenheiten außer Acht zu lassen, die sich „zufällig“ ergaben und nicht in sein System paßten. Im Prinzip hatte er denselben Tunnelblick wie später Steinitz, der für den in der Schachpsychologie berühmt-berüchtigten Großmeisterfehler verantwortlich ist, der sich ja nicht nur bei diesen beiden tiefen Theoretikern zeigte. Und eben jener Tunnelblick war auch für eklatante Fehler in seinen Analysen verantwortlich. Treppner/Pfleger, S. 16:[QUOTE]Das war besonders fatal, wenn er eine an sich richtige Regel oder Idee mit einer fehlerhaften Variante begründete. Schon zu seinen Lebzeiten wurden solche Schwächen entdeckt, und seine Gegner hatten es nicht schwer, sein Werk anhand solcher Beispiele zu kompromittieren[/QUOTE] Als Philidor 1795 im englischen Exil starb, kam ein ganz anderes Kaliber gerade hoch, nämlich Napoleon, der sich allmählich mit seinen spektakulären Siegen auf den europäischen Schlachtfeldern einen Namen machte. In dieser Zeit war kein Platz mehr für umsichtiges Positionsspiel, Bruns läßt Euwe ausführen:[QUOTE]Der Absolutismus der Figuren trat aufs neue in den Vordergrund; womöglich noch stärker als zuvor. Man hatte nichts für das ruhige, wenig anziehende Positionsspiel Philidors übrig und hielt mehr vom scharfen Angriffen und Kombinationen. Der Geist von Greco herrschte, allerdings unter günstigeren Umständen. [...] Man hatte gelernt, die Kombinationen in Angriffsstellungen zu suchen und wußte letztere auch zu erreichen[/QUOTE] (S. 23)Und in der Romantik war das Pendel sowieso wieder zugunsten eines schöpferischen Angriffsschachs umgeschlagen, bis sich sehr viel später Howard Staunton und Wilhelm Steinitz regten, ein ewiger Kreislauf im Schach, wie im Leben...