Wahrscheinlich war es der bekannte hypermoderne Theoretiker und spielstarke Großmeister Aaron Nimzowitsch, der als erstes bewußt gegen die althergebrachte Regel verstoßen hat, Könige gehören im Mittelspiel grundsätzlich geschützt. Von ihm ist das Bonmot überliefert: „ich mag es, mit meinem König zu promenieren“ Raymond Keene hat drei Richtlinien aufgestellt, wann ein aktives Wirken des Königs bereits im Mittelspiel eine interessante Strategie sein kann:1.) Provokation2.) Vorauseilende Verteidigung (Verlassen eines bedrohten Flügels)3.) Die Möglichkeit einer eigenen Aggression am verlassenen Flügel selbstDie erste Partie zwischen Aljechin und Nimzowitsch ist Strategie Nr. 2 gewidmet und die 2. Partie zwischen Nilsson und Nimzowitsch ist Strategie Nr. 3 gewidmet.Ich habe zudem noch eine vierte Strategie aufgestellt, die mir für das letzte Beispiel zwischen Short und Timman passend scheint:4.) Herbeiführung des Königs als entscheidende AngriffsfigurDiese Strategie ist verständlicherweise meist nur möglich, wenn der Gegner vollständig paralysiert ist. Viel Spaß jedenfalls mit den wirklich bemerkenswerten Partien!
Beitrag von Kiffing
Ich möchte mit euch heute einen Klassiker der Schachgeschichte besprechen, der wunderbar zum Thema des Königsmarschs im Mittelspiel paßt. Es war die 5. Partie in der Schach-WM 1910 zwischen Titelverteidiger Emanuel Lasker und Herausforderer Carl Schlechter. Diese Weltmeisterschaft hat einen festen Platz in der Schachgeschichte, ranken sich um ihr doch noch immer Mythen und Legenden. Das alles hat uns hier nicht zu interessieren, doch wer näher davon wissen möchte, der schaue doch gerne einmal in den Thread hinein, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt: [url]http://www.schachburg.de/threads/760-Geheimnisse-um-die-Schach-WM-1910[/url]Nur ganz kurz erklärt werden soll, daß in der auf nur zehn Partien angesetzten Schach-WM alle Partien Remis ausgingen; nur die 5. Partie gewann Schlechter, während Lasker die 10. Partie noch mit Ach und Krach für sich entscheiden konnte. Wir wollen nun die 5. Partie besprechen. Wie Schlechter die 10. Partie, so hätte Lasker die 5. Partie gar nicht verlieren dürfen. Nach einer anspruchslosen Herangehensweise als Weißer in die Partie, die allerdings zum friedliebenden Vertreter der Wiener Schule paßte, hatte Schwarz mühelos den Ausgleich errungen. In einem remisverdächtigen Mittelspiel wollte der Deutsche aber mehr und entschloß sich im 27. Zug zu einer Königswanderung, durch die Lasker seinen König vom Königs- auf den Damenflügel geleitet. GM Wjatscheslaw Eingorn hat dieses Manöver nach 25. c4 wie folgt begründet:[QUOTE]Dies [25. c4] ist kein Angriffsversuch (b4, a4, etc.), denn in den nächsten Zügen verfolgt Weiß wiederum eine Abwartestrategie. Seine Vorgehensweise gibt Schwarz keinerlei Anlaß zur Sorge. Dieser möchte allerdings nicht abwarten und versucht seinerseits, auf Gewinn zu spielen. Im Moment kann man sich kaum vorstellen, wie ihm das gelingen könnte. Theoretisch mag es durch die e-Linie und die kompaktere schwarze Bauernformation einige Chancen geben, aber solange sein Turm und seine Dame an Verteidigungsaufgaben gebunden sind, kann er nichts unternehmen. Nach den Regeln der Militärstrategie muß erst ein Kräfteübergewicht geschaffen werden, um eine aktive Operation durchzuführen. Schwarz löst diese Aufgabe mit genialer Einfachkeit, indem er seinen König zum künftigen Schauplatz des Kampfes überführt. Auf diese Weise wird der Boden für einen neuen Konflikt bereitet, an dem sich Weiß notgedrungen schließlich doch beteiligen muß[/QUOTE]Wjatscheslaw Eingorn, Entscheidungsfindung am Schachbrett, GAMBIT-Verlag, 2005, S. 16 Im Prinzip verlief für Schwarz danach alles nach Plan, und eigentlich hätte er diese Partie danach gewinnen müssen. Es kam zu einem Kampf auf dem Damenflügel, wo Lasker durch seinen König nun ein Übergewicht hatte. So gewann er einen Bauern, und er hätte danach mit dem thematischen 49. ...Tc5 (Vorschlag von GM Eingorn, ebd. S. 18) seinen Vorteil realisieren können. Doch das ist das Schwierige im Schach. Man kann das bessere strategische Grundkonzept haben, doch die beste Strategie hilft nichts, wenn einem individuelle Fehler alles zerstören. Jeder Schachspieler kennt dieses Gefühl...In der Folge verzettelte sich Lasker, spielte ungewohnt ungenau, und schließlich war es sogar Laskers exponierter König, der ihm schließlich das Genick brach und dem völlig überraschten Schlechter noch einen Punkt schenkte. Dazu hätte es niemals kommen brauchen, und die überraschende Wende in dieser für Lasker eigentlich schon gewonnenen Partie war der Anfang einer tiefgreifenden Tragik, die sich wie ein rotverschmierter Fluß durch diese Schach-WM zog.Die Partie ist hier von Jose Raul Capablanca kommentiert worden. Zu sehen ist außerdem eine Besprechung auf Chessgames: [url]http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1121161[/url][Event "Wch10-GER/OST (Wien)"][Site "Wch10-GER/OST (Wien)"][Date "1910.01.22"][Round "5"][White "Carl Schlechter"][Black "Emanuel Lasker"][Result "1-0"][ECO "C66"][PlyCount "116"][EventDate "1910.??.??"]1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 Nf6 4. O-O d6 5. d4 Bd7 6. Nc3 Be7 7. Bg5 O-O 8.dxe5 Nxe5 9. Bxd7 Nfxd7 10. Bxe7 Nxf3+ 11. Qxf3 Qxe7 12. Nd5 Qd8 13. Rad1 Re814. Rfe1 Nb6 15. Qc3 Nxd5 16. Rxd5 Re6 17. Rd3 Qe7 18. Rg3 Rg6 19. Ree3 Re8 20.h3 Kf8 21. Rxg6 hxg6 22. Qb4 c6 23. Qa3 a6 24. Qb3 Rd8 25. c4 Rd7 26. Qd1 Qe527. Qg4 Ke8 28. Qe2 Kd8 29. Qd2 Kc7 30. a3 Re7 31. b4 b5 32. cxb5 axb5 33. g3g5 34. Kg2 Re8 35. Qd1 f6 36. Qb3 Qe6 37. Qd1 Rh8 38. g4 Qc4 39. a4 Qxb4 40.axb5 Qxb5 41. Rb3 Qa6 42. Qd4 Re8 43. Rb1 Re5 44. Qb4 Qb5 45. Qe1 Qd3 46. Rb4c5 47. Ra4 c4 48. Qa1 Qxe4+ 49. Kh2 Rb5 50. Qa2 Qe5+ 51. Kg1 Qe1+ 52. Kh2 d553. Ra8 Qb4 54. Kg2 Qc5 55. Qa6 Rb8 56. Ra7+ Kd8 57. Rxg7 Qb6 58. Qa3 Kc8 1-0
Zum Thema Königswanderung, hier unter dem Begriff des Wanderkönigs, gibt es auf Wikipedia [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Wanderk%C3%B6nig_%28Schach%29"]weitere Beispiele[/URL], anschaulich illustriert. Die Partie Short vs. Timman durfte natürlich nicht fehlen, aber es gibt zahlreiche weitere Fälle, unter anderem auch zwei Partien mit "doppelten Wanderkönigen". :D :eek: