Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Der gekerbte Raum im Schach“

schachburg.de

Beitrag von SoulOfTheInternet

Die Philosophie des gekerbten Raums im Schach

Rhizom und Nomadismus als philosophische Hintergründe des gekerbten Raumes
Im Jahre 1980 erschien im Original (dtsch.: 1992) von dem französischen Philosophen Gilles Deleuze und dem französischen Psychoanalytiker Félix Guattari der zweite und letzte Band ihres Werkes „Kapitalismus und Schizophrenie“, mit dem Begleittitel „Tausend Plateaus“ (frz.: „Mille Plateaux“). Der erste Band war im Original 1972 mit dem (hier ebenfalls auf Deutsch wiedergegebenen) Begleittitel „Anti-Ödipus“ (dtsch.: 1974) erschienen. Bereits im ersten Kapitel in „Tausend Plateaus“ wird gegenüber einer klassisch ordnenden vermeintlichen Darstellung von Sachverhalten, welche mit der Zuweisung von Elementen in Ebenen bzw. Hierarchien (Baum-Modell) arbeitet, ein anderes Beschreibungsmodell bzw. eine andere Denkfigur vorgeschlagen: das Rhizom. Während beim sogenannten Baum-Modell sich ein Element auf einer bestimmten Ebene befindet, dabei ggf. einer höheren Ebene untergeordnet ist und ggf. anderen Elementen (die sich auf einer tieferen Ebene befinden) übergeordnet - und zwar ohne dass es zwischen den Elementen auf verschiedenen Ebenen zu Verbindungen käme -, wird bei dem philosophischen Rhizomatik-Konzept von einer wandelfähigen Vernetzungsstruktur ausgegangen. Wobei der Wortteil „Struktur“ nur ein Momentum meint, denn bei einem Rhizom gibt es nichts Festgefügtes, es kann sich an jeder Stelle zu jeder Zeit ändern. Zu seinen Kennzeichen gehören Heterogenität (Uneinheitlichkeit) und die Möglichkeit der flexiblen Konnexion seiner (ggf. temporären) Elemente zueinander. Ein Rhizom kann sich ausbreiten oder verkleinern, seine Kartographie gibt keine beständigen Daten wieder. „Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, an denen es unaufhaltsam flieht.“ (Tausend Plateaus, 1992, S. 13.) Die Anwendbarkeit des Modells ist vielseitig; es kann sich bspw. auf Machtstrukturen oder die Verteilung kultureller Praktiken beziehen, aber auch auf andere darzustellende Netzwerke. So wird in diversen wissenschaftlichen Disziplinen auf das Beschreibungsmodell Rhizom zurückgegriffen. Zum Beispiel ermöglicht es eine dezentrierte und dehierarchisierte Darstellung kollektiven Wissens. Zwar fehlt dem Rhizom ein Ursprung, aber es verdeutlicht Zentren der Bündelung und weitreichende Verflechtungen. Durch seine Ortsunabhängigkeit und Dynamik weist es die Eigenschaft des Nomadenhaften auf, es stellt kein starres Ordnungsmodells dar. In einem weiteren Kapitel aus „Tausend Plateaus“ heißt es, dass durch die Denkform des Nomadismus‘ der beengenden Starre institutioneller Kräfte entkommen werden könne.

Der gekerbte Raum
Im letzten Kapitel des Werkes „Tausend Plateaus“ werden die Begriffe „glatter Raum“ (frz. „espace lisse“) und „gekerbter Raum“ (frz. „espace stratié“) tiefer gehend erläutert. Die beiden Begriffe lassen sich wie der des Rhizoms auf materiell Fassbares und auf Abstraktes beziehen. Auf der Ebene des materiell Fassbaren könnte der glatte Raum bspw. ein von einem Nomaden besuchtes Territorium sein, das dieser gewissermaßen spurenlos wieder verlässt, da es für ihn nur eine Zwischenstation war. Ein gekerbter Raum dagegen wäre z. B. eine Stadt. Sie weist mit ihren Mauern, Straßen, Häusern usw. feste Strukturen - Kerben - auf. Die Begriffe „glatter Raum“ und „gekerbter Raum“ werden bei Deleuze/Guattari auch auf das Militärwesen bezogen. Das Gefüge einer Kriegsmaschinerie ist nach den beiden Autoren auf glatte Räume ausgerichtet. (In zeitlich nachfolgender Literatur anderer Verfasser zum Militärwesen wurden militärische Ausstattungen allerdings durchaus mit gekerbten Räumen - dabei mit begrifflichem Bezug auf Deleuze/Guattari - in Verbindung gebracht.)

Der gekerbte Raum im Schach
Die Wirkungsweisen von Staat(en) und Kriegsmaschinerie(n) werden bei Deleuze/Guattari mit den Spielen Schach und Go verglichen. Die Sichtweise des Schachspiels als Muster eines gekerbten Raumes liegt nahe: Brettstruktur und Bewegungsumfänge der Figuren sind vorgegeben, die verschiedenen Figuren dürfen nur nach den Vorgaben des (jeweils in der betreffenden Schachkultur) festgelegten Regelwerks geführt werden. Die Funktionen der Schachfiguren bilden überdies in simplifizierter Form Hierarchien des Staatswesens nach. Interessanterweise wird im geisteswissenschaftlichen Diskurs die Aussage von Deleuze/Guattari zu Schach als gekerbter Raum auf zweierlei Weise interpretiert: Die einen denken an eine Konfrontation von zwei Staatsapparaten auf gekerbtem Raum, die anderen sehen das Schachspiel insgesamt als - wie auch von uns erwähnt - beispielhaftes Muster eines gekerbten Raumes. Entsprechend wird der Vergleich von Deleuze/Guattari zwischen Schach und Go mitunter als Vergleich zwischen zwei verschiedenen Konfrontationsformen (insgesamt also vier Parteien) dargestellt und andere Male als direkte Konfrontation von zwei Spielarten, wovon die eine (Schach) mit ihren Regeln einen gekerbten Raum konstituiert und die andere (Go) mit ihren Regeln einen glatten Raum. Was gleichsam bedeutet, dass die Darstellung vom Spiel Go als Muster für einen glatten Raum insgesamt infrage zu stellen ist, und zwar auch dann, wenn Deleuze/Guattari selbst dahinter ständen. Die Tatsache allein, dass es zwischen den Go-Steinen keine mit den Schachfiguren vergleichbaren Hierarchien gibt, bedeutet schließlich nicht, dass es zum Spiel Go kein Regelwerk gäbe, das einzuhalten ist, und kein Spielfeld mit festgelegten Abständen. Für eine sinnhafte Diskussion zum Thema ist immer genau die Bezugsebene zu hinterfragen bzw. zu konkretisieren: Werden Schach und Go jeweils als alleinstehendes Abstrakta betrachtet - als zwei verschiedene Spielformen mit eigenen einzuhaltenden Regeln, welche unseres Erachtens beide Spielformen als Muster von gekerbten Räumen konstituieren? Oder wird nicht ihr jeweiliges Wesen als Spiel an sich (mit Regeln, Spielfeld, mit oder ohne Hierarchien etc.) betrachtet, sondern das Wesen der Besetzung und Kontrolle von Räumen? (Bei Go durch die Setzung eines beliebigen „anonymen“ Steines auf einen beliebigen Ort des Spielfeldes.) Unseres Erachtens nur in dem Fall ließe sich Go - im Vergleich mit Schach - als Spiel mit glattem Raum aufführen, wenn es also nur um den Teilaspekt der (innerhalb des Regelwerks!) beliebigen Figurenführung ginge. Oder werden Schach und Go ggf. als Symbole von Machtsystemen und Herrschaftsstrukturen genutzt, sodass die Bezugsebene von Brettspielen mit eigenen Regelwerken verlassen wird? Soweit im Verlauf des wissenschaftlichen Diskurses der Transfer zu Überlegungen zum echten Staats- und Militärwesen vorgenommen wird, wird die - auf den glatten Raum bezogene - Kriegsmaschinerie dem - auf den gekerbten Raum bezogenen - Staatsapparat als überlegen dargestellt.

Die sogenannten „Hypermodernen“ im Schach
Im Verlauf der Kulturgeschichte des Schachspiels waren verschiedene Spielstrategien ‚en vogue‘. Zu den Verfassern bekannter Schachschriften - allesamt Schachspieler - gehören u. a. der Franzose François-André Danican Philidor (1726-1795), der Deutsche Adolf Anderssen (1818-1879; er verfasste Schachaufgaben), der Deutsche Jean Dufresne (1829-1893), der gebürtige Österreicher und Amerikaner Wilhelm Steinitz (1836-1900), der Deutsche Siegbert Tarrasch (1862-1934), der in Leipzig geborene Jacques Mieses (1865-1954), der Deutsche Emanuel Lasker (1868-1941), der im heutigen Lettland geborene Aaron Nimzowitsch (1886-1935), der in Rostow am Don geborene Savielly Tartakower (1887-1956), der Kubaner José Raúl Capablanca (1888-1942), der in Pezinok nahe Pressburg geborene Richard Réti (1889-1929), der in Moskau geborene Alexander Alexandrowitsch Aljechin (1892-1946; verfasste u. a.Schriften über Turniere), der Ungar Guyla Breyer (1893-1921; der jung verstorbene Schachspieler verfasste eröffnungstheoretische Abhandlungen) und der Niederländer Machgielis (Max) Euwe (1901-1981). Der in Neuilly-sur-Seine geborene Marcel Duchamp (1887-1968) entwickelte mit dem Komponisten John Cage ein Verfahren, Schachpartien in Klänge umzuwandeln („Réunion“).

Im Jahre 1913 veröffentlichte Nimzowitsch den Artikel „Entspricht Dr. Tarraschs ‚Die moderne Partie‘ wirklich moderner Auffassung?“. Nimzowitsch richtete sich u. a. im Speziellen gegen die auch von Tarrasch propagierte Eröffnungsstrategie der Zentrumsbesetzung durch Bauern und allgemein gegen das Phänomen einer dogmatischen Schachspiel-Ästhetik. Von Réti erschien 1922 das Büchlein „Neue Ideen im Schachspiel“ (Rikola Verlag Wien, 1922), 1924 siegte er mithilfe seiner Ideen in New York gegen den herausragenden Weltmeister Capablanca. Auch Breyer suchte nach neuen Wegen der Spielstrategie. Von Tartakower schließlich erschien im Jahre 1924 das Werk „Die hypermoderne Schachpartie“, womit der Begriff „Hypermoderne“ verbreitet wurde. Doch Nimzowitsch selbst, dessen 1912er Aufsatz zu einer Art Manifest der Bewegung der Hypermoderne geworden war, distanzierte sich teilweise gegenüber Tartakowers philosophischer Vereinnahmung und stellte klar: „Wir Modernen sind an die Grenzen der Logik ebenso gebunden wie die Nichtmodernen, nur daß wir eben eine Verinnerlichung der toten Dogmen, eine Belebung derselben anstrebten.“ (Mein System, Berlin (nach 1924), S. 263.) Das war die Antwort auf Tartakowers Beschreibung der „Hypermoderne“ als Anti-Logik. Tartakower selbst wurde ebenfalls als Vertreter der Hypermodernen eingeordnet. Der Künstler Duchamp betrachtete ihre Schachspielweisen als zeitgemäße Analogien zu künstlerischem Schaffen.

Philosophische Überfrachtungen im Zusammenhang mit Schach und Schachästhetik, der sogenannten Hypermoderne und den Begriffen gekerbter und glatter Raum

In gegenwärtigen Diskursen werden paradigmatische Denkmodelle des 1980 (dtsch.: 1992, s. o.) erschienenen Werkes „Tausend Plateaus“ auch mit Bezug auf die sogenannte Hypermoderne gebraucht. Wir vertreten die Meinung, dass dabei die Gefahr einer ideologischen Überfrachtung stets zu beachten ist. Diese Gefahr besteht nicht zuletzt dadurch, dass Deleuze/Guattari mit ihren Begrifflichkeiten Rhizom und glatter und gekerbter Raum Wörter zur Verfügung stellten, deren semantischer Gehalt sich auf bspw. Aquarellmalerei oder Theaterinszenierungen ebenso beziehen lässt wie auf politische Untergrundbewegungen, Militäroperationen oder terroristische Aktionen. In der Zeit zwischen 1912, als „Entspricht Dr. Tarraschs ‚Die moderne Partie‘ wirklich moderner Auffassung?“ erschien, und 1980 lagen zwei Weltkriege und der Holocaust. Die jüdischen Schachspieler Nimzowitsch und Réti hatten in Berlin bzw. Wien studiert und als Schachspieler gewirkt und somit in Ländern, in denen während des 2. Weltkrieges der Nationalsozialismus herrschte. (Zu Tartakower wird überliefert, dass seine jüdischen Eltern und er zum römisch-katholischen Glauben konvertierten, er selber später wieder zum Judentum zurückkehrte.) (Es gab übrigens schon vor dem Nationalsozialismus Stimmen, die zwischen „arischem“ und „jüdischem Schach“ unterscheiden wollten.) Wenn es in einem Diskurs heißt, die Hypermoderne - in Verbindung gebracht mit Persönlichkeiten wie Nimzowitsch und Réti - hätte versucht, den gekerbten Raum des Schachs in einen nomadischen bzw. glatten zu verwandeln, und dann zudem Begriffe wie „rationaler Staat“ oder „Nationalstaat“ als Beispiele für einen gekerbten Raum auftauchen, erhält die Schachbewegung "Hypermoderne" eine politische Bedeutsamkeit, die der historischen Realität ggf. nicht gerecht wird.

Wenn schon Kulturströmungen der Schachgeschichte mit politischen Begriffen verwoben werden, dann ist außerdem Transparenz gefordert. Die „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ gibt in Band 5 eine wichtige Information: „Diese Avantgarde [Anm.: Nimzowitsch, Tartakower, Réti] jüdischer Schachtheoretiker, in der Schachwelt als Hypermoderne bezeichnet, prägte über Jahrzehnte auf der Grundlage der neuen Auffassungen von Steinitz Strategeme und Grundbegriffe wie Prophylaxe, Zentralisierung und Blockade.“ Mit dieser Kenntnis ist zu erwähnen, dass Tarrasch, der mit seinen Schriften von der Hypermoderne kritisiert wurde, einer jüdischen Familie entstammte, jedoch 1909 zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertierte. Seine Forderungen nach Orientierung an bestimmten Spieltaktiken und einer gewissen Schachästhetik werden von Kritikern als zu dogmatisch betrachtet. Wenn es um die Führung der Bauern in der Eröffnungsphase und das Festhalten an vorgegebenen Spielstrategien geht, lässt sich die Kritik evtl. nachvollziehen. Allerdings wird zu weniger bedeutenden Spielern, die sich zu damaliger Zeit als Vertreter der Hypermoderne verstanden, auch berichtet, dass sie die Spiele mit ihren Zügen absichtlich in die Länge zogen, den Spielfluss hemmten und den Eröffnungslehren Tarraschs eigene starre Eröffnungsdogmen entgegensetzten. Letzteres entsprach nicht den Idealen der bedeutenden Hypermodernen, und Erstgenanntes erweckt Verständnis für das Verlangen Tarraschs nach der Berücksichtigung einer gewissen Spielästhetik. Wenn in der Gegenwart die Hypermoderne und ihre Auseinandersetzung mit Tarrasch thematisiert wird, dann sollte zum einen die Glaubensrichtungen der Beteiligten nicht unerwähnt bleiben, damit ggf. - also nicht unbedingt - mitschwingende religiös-kulturelle Motive der Konfrontation miteinbezogen werden können. Sie können anschließend ggf. verworfen, ggf. als womöglich zutreffend bezeichnet werden, aber sie sollten aus Gründen der Transparenz nicht ausgeklammert werden. Zum anderen sollte im Zusammenhang mit Schachhistorie und dem Begriff „gekerbter Raum“ unbedingt auf Differenzierung geachtet werden. Unsere Meinung ist, dass das Spiel Schach - ohne Berücksichtigung des Spielers - mit seinen Regeln, Figuren und Spielbrett ein typisches Beispiel für einen gekerbten Raum darstellt. Dass es jedoch außerdem möglich ist, die Spielweise eines bestimmten Spielers als eher orientiert an hierarchisch aufgebauter Strategie oder eher von rhizomatischer Dynamik gesteuert zu erkennen. Beide Spielweisen wären unserer Meinung nach unvollkommen. Erst die Verbindung von Ordnung und Freiheit erscheint uns als ideale Vorgehensweise in einem Spiel. Wir sind aber auch überzeugt, dass alle bedeutenden Schachspieler - ungeachtet ihrer theoretischen Werke - im Verlaufe ihrer großen Spiele Freiheit und Ordnung kombinierten, kombinieren mussten, um zu gewinnen oder einfach interessant spielen zu können.