Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Induktion, Deduktion und Karl Popper im Schach“

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Beitrag von Kiffing

Bekanntlich ist das Schachspiel ein höchst wissenschaftliches Spiel, das Denksportler und Strategen weltweit begeistert. Auch viele Gehirnforscher bedienen sich mit Vorliebe des Schachs, um an diesem Spiel die Denkprozesse der Spieler zu studieren, um zu erkennen, in wieweit der Schachspieler beim Spielen denkt, aber auch um Aufschlüsse über das menschliche Denken in Gänze zu erhalten.Wenn wir uns nun dem Zusammenhang zwischen dem Schachspiel und der Wissenschaft widmen, so stelle ich zur Verdeutlichung erst einmal grob das wissenschaftliche Denken vor: Der Wissenschaftler stellt eine Hypothese auf, die er mit Argumenten untermauert, und die verifiziert oder falsifiziert werden kann. Das wäre im Schach also in etwa so, daß der Spieler eine bestimmte Idee hat und dann prüft, ob diese Idee sich durchsetzen kann. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß 2004 auf dem Treffen der Gesellschaft für Kognitionswissenschaftler in Chikago herausgefunden wurde, daß sich starke und schwache Spieler stark in ihrer diesbezüglichen Herangehensweise unterscheiden. Während starke Spieler ihre Ideen einer strengen Überprüfung unterziehen, denken schwache Spieler beim Schach spielen nicht wissenschaftlich. Das heißt, sie lassen sich von einer eigenen Idee begeistern, aber versäumen es, zu überprüfen, ob diese Idee auch funktioniert. Sie lassen sich also von Wunschdenken leiten (vgl. letzte Threadquelle). In diesem Zusammenhang interessant ist, daß sowohl Max Euwe als auch Michail Botwinnik in Relation zu ihrer Spielstärke recht wenig Talent beschieden wurde. Sie kompensierten diesen relativen Mangel aber durch eine systematische, streng wissenschaftliche Herangehensweise an das Schach. Auch wenn beide mit schöpferischen Naturtalenten (Euwe gegen Aljechin und Botwinnik gegen Tal) immer wieder Probleme hatten, konnten sich beide doch mehr oder weniger lange auf dem Weltmeisterthron behaupten.In der klassischen Wissenschaft gibt es im Spannungsfeld zwischen Empirie und Theorie, das heißt, dem Konkreten und dem Allgemeinen, zwei Denkmodelle, wie der Wissenschaftler zu seinem Ziel kommt. Kommt er a priori zu seinem Ziel, dann handelt er deduktiv, das heißt, er kommt aufgrund allgemeiner Erwägungen, d. h. einer Theorie, zu einem Schluß, aus dem er dann die konkreten Einzelfälle ableitet. So kommt er z. B. anhand der These: jede Arbeit ist zweckbestimmt zu dem Schluß: der Bäcker arbeitet zweckbestimmt (Sisyphusarbeit wäre demzufolge ein Paradoxon, das in der griechischen Antike von denkfreudigen Griechen bereits ausgearbeitet wurde). Der induktiv herangehende Wissenschaftler dagegen kommt aufgrund des Einzelfalls zu Schlußfolgerungen, aus denen er das Allgemeine ableitet. So würde er aufgrund der Beobachtung, der Bäcker arbeitet zweckbestimmt, nämlich indem er Teigwaren für die Bevölkerung herstellt, um diese zu ernähren, zu dem Schluß kommen, daß demzufolge jede Arbeit einen Zweck haben müsse.Was diese wissenschaftlichen Methoden nun mit unserem Lieblingsspiel zu tun haben, darüber klärt Alexei Suetin auf, der auch benennt, daß Schachspieler entweder zu dem einen oder dem anderen Typus neigen können. Er führt aus:[QUOTE]Auf der einen Seite haben wir den starken, phantasiebegabten Taktiker, der eine scharfe, manchmal auf Fallen basierende Spielführung liebt, aber für allgemeine Schlußfolgerungen und gemächliches Lavieren wenig übrig hat. Er begeistert sich für schneidige Attacken, ist aber bei der Verteidigung nicht besonders standhaft, neigt zur Ungeduld und steht mit der Technik der Vorteilsverwertung auf Kriegsfuß.Bei diesen Spielern ist die induktive Denkweise (d. d. das Schließen vom Besonderen auf das Allgemeine) stark ausgeprägt.Auf der anderen Seite finden wir dessen Antipoden, den deduktiven (also den vom Allgemeinen aufs Spezielle schließenden) Spieler. Dieser beherrscht mühelos die Gesetze der Strategie, ist praktisch veranlagt, verteidigt sich zäh, verbessert ständig seine Technik und vermag darum selbst aus geringfügigen Vorteilen Kapital zu schlagen [diese Formulierung finde ich in einem Schachbuch aus den Warschauer-Pakt-Staaten witzig, Kiffing] Demgegenüber hegt er gegen scharfe Spielweisen ein gewisses Vorurteil. Zugespitzte taktische Situationen, in denen alles am seidenen Faden hängt, vermeidet er gern [/QUOTE]Alexei Suetin, Schachstrategie für Fortgeschrittene 2, Sportverlag Berlin, S. 341Suetin kommt zu dem Schluß, daß demzufolge der beste Stil der Universalstil sei, der sich die Vorzüge beider Denkmethoden zunutze macht ohne in die Schwächen einer zugespitzten Vorliebe für eine der beiden Denkmethoden zu verfallen. Zur Veranschaulichung nennt Suetin mit Siegbert Tarrasch einen typisch deduktiven Spielertypen, der sehr stark zur Theoretisierung geneigt habe, während bei Michail Tschigorin, also den Vater der schöpferisch orientierten russischen Schachschule eine klare Vorliebe für die induktive Denkmethode vorgeherrscht habe (s. ebd. f.).Die allgemeine Wissenschaftsmethode stark beeinflußt hat später Karl Popper mit seiner Falsifikationstheorie, die sich radikal gegen die beiden Klassiker der induktiven und deduktiven Denkmethode gewandt hat. Popper warf beiden Klassikern vor, zu fehlerbehaftet zu sein, um endgültige Aussagen treffen zu können. Eine Theorie könne sogar nie bewiesen, sondern nur falsifiziert werden, was den folgenden Schluß nach sich ziehe, daß eine Theorie erst durch die „Falsifikationen der Falsifikationen“ an Standhaftigkeit gewinnen könne. In diesem Sinne haben nach Popper Theorien nur einen Wert, wenn sie theoretisch widerlegt werden können. Poppers radikales Gegenmodell hat die allgemeinen Wissenschaftsmethoden stark beschleunigt, und nicht zuletzt deshalb, weil die wissenschaftlichen Klassiker sich als Reaktion auf die Angriffe Poppers bemühten, ihre Lehrmethoden zu verfeinern und zu verbessern, um so weniger anfällig für Fehler zu sein. Und natürlich kommt auch Karl Popper bzw. seine Falsifikationstheorie im Schach vor. Aus der Schlußfolgerung des eingangs erwähnten Treffen der Gesellschaft für Kognitionswissenschaftler in Chikago 2004 [URL="http://www.wissenschaft.de/home/-/journal_content/56/12054/1115857/"]heißt es[/URL]:[QUOTE] Gute Schachspieler denken wie Wissenschaftler. Diese Behauptung hat eine Gruppe von Verhaltensforschern auf dem diesjährigen Treffen der Gesellschaft für Kognitionswissenschaften in Chicago aufgestellt. Bevor sich Großmeister demnach für den nächsten Zug einer Partie entscheiden, stellen sie in Gedanken ihre gegenwärtige Theorie für den Weg zum Sieg in Frage. Dieser von dem Philosophen Karl Popper als Falsifikation bezeichnete Vorgang wird vor allem von Wissenschaftlern bei der Erstellung theoretischer Modelle benutzt. Dabei stellt ein Forscher zunächst eine Behauptung auf, und versucht dann, diese auf so viele Arten wie möglich selbst zu widerlegen. Michelle Cowley und ihre Kollegen vom Trinity College in Dublin haben nun herausgefunden, dass gute Schachspieler ähnlich denken. [/QUOTE]