Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Magnus Carlsen: Der “Lasker des 21. Jahrhunderts”?“

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Beitrag von blunder1

Nachdem ich mich mit Kiffing bereits kurz über den Stil von Spielern austauscht habe und dabei auch Carlsen zur Sprache kam, möchte ich Euch meine Meinung bezüglich seines Spielstils mitteilen und Euch fragen, ob Ihr das ähnlich seht.Seit ein par Wochen befasse ich mich intensiv mit dem Schach von Emanuel Lasker, dem Mann, der länger als jeder andere Weltmeister war (1894-1921) und seine Epoche schachlich über Jahrzehnte hinweg dominierte.Die beiden Bücher, die ich verwende, sind: Ich zähle Nunn und Marin zu den besten Schachbuchautoren und beide weisen auf die Ähnlichkeit zwischen den Spielstilen Laskers und Carlsens hin.Wie spielte Lasker? Klingt das nicht erstaunlich nach Carlsen?John Nunn meint, dass die fünfte und die sechste Partie des WM-Wettkampfs 2013 gegen Anand, die objektiv Remis waren und dennoch von Carlsen gewonnen wurden, sehr an Lasker erinnern.Wie seht Ihr das?

Beitrag von Kiffing

Ehrlich gesagt wirken beide Spieler auf mich grundverschieden. Lasker ist doch immer wieder ein hohes Risiko in seinen Partien eingegangen, wenn er entgegen der Objektivität der Stellung Züge aufs Brett setzte, die er als unangenehm für seinen Gegner ansah. Carlsen dagegen spielt für mich immer objektiv mit einem starken Fokus auf druckvolle Technik, auch wenn er "schachpsychologisch" dabei Fehler des Gegners einkalkuliert anstatt vorzeitig ein Remis zu vereinbaren. Sein ambitionsloses Spiel in der Eröffnung erinnert zwar durchaus an Laskers, der ebenfalls der Theorie kaum eine Bedeutung beimaß. Aber das ist doch eher ein Makel als eine Stärke, weil in der Eröffnung bereits die Weichen für den zukünftigen Partieverlauf gestellt werden. Insgesamt spielt Carlsen für mich abgerundeter, während Laskers Spiel getreu seiner Psychologie des Kampfes Ecken und Kanten hatte. Lasker würde ich eher mit Kortschnoi vergleichen. Denn während Magnus Carlsen stets nach Dominanz strebt, war Lasker ein klassischer Konterspieler wie eben Kortschnoi, und auch seine Partien dauerten vergleichsweise lang, wie einmal ausgewertet wurde.

Beitrag von blunder1

Zuerst vielen Dank für deine Antwort, auf die ich ausführlich eingehen will; ich hatte schon befürchtet, dass die Schachburg vor sich hindümpelt, während ich als Foren-Frischling mit vielen Beiträgen versucht habe, eine kleine Diskussion in Gang zu bringen.Inhaltlich bin ich mit deiner Beschreibung Laskers nicht einverstanden, weder mit dem “hohen Risiko”, noch mit dem “klassischen Konterspieler” und schon gar nicht, dass Lasker “entgegen der Objektivität der Stellung Züge aufs Brett setzte”; auβerdem stimme ich Nunn und Marin zu, dass Carlsen sehr an Lasker erinnert.Wie intensiv hast Du dich mit Laskers Schach befasst? Beruhen deine Kenntnisse auf der “traditionellen” Betrachtungsweise, die vor allem von Tarrasch und Reti stammt, unkritisch von Generation zu Generation weitergegeben worden und seit längerem widerlegt ist?Um keinen Spieler ranken sich so viele Legenden wie um Lasker, der seiner Zeit weit voraus war, weil er der erste universelle Spieler war. Seine Zeitgenossen verstanden sein Spiel nicht und ergingen sich in erstaunliche Erklärungsversuche: von reinem Glück (Tarraschs “Duseltabelle” in seinem Turnierbuch Nürnberg 1896) über “Hexerei”, der Wirkung seiner Zigarren, bis zu Richard Reti in “Meister des Schachbretts”, der wirklich glaubte, dass Lasker mit Absicht schlechte Züge gespielt hätte, um gewinnen zu können.Reti begründete dies folgendermaβen: Bei der allgemein guten Technik der Meister sei es nahezu unmöglich, auf “normale” Art und Weise zu gewinnen und Remis sei die fast zwangsläufige Folge (schon damals wurde der “Remistod” des Schachs lebhaft diskutiert). Deswegen hätte Lasker mit Absicht schlechte Züge gespielt, um erst dann seine wahre, riesige Spielstärke zu demonstrieren, nachdem er seinen Gegner in eine Falle gelockt hätte.Alles falsch; dabei berufe ich mich auf sehr starke Spieler, die Laskers Schach genau untersucht haben (z.T. mit Computerunterstützung). Ich befasse mich seit einigen Wochen intensiv mit Laskers Schach und versuche, so unvoreingenommen wie möglich zu sein; ich muss also überzeugt werden.Der erste dieser Spieler, von dem ich weiβ (wahrscheinlich hatte es andere gegeben), dass er einiges bezüglich Lasker richtig stellte, war David Bronstein, der betonte, dass man mittlerweile wüsste, das gewisse Stellungen, die früher als glatt verloren galten, durchaus – unter bestimmten Vorraussetzungen - lebensfähig seien.Robert Hübner lehnt jede Erklärung für Laskers Spielweise (welche er genau untersucht hat), die auf “psychologischer Kriegsführung im Schach” basiert, kategorisch ab. Ich zitiere aus seinem Buch über den WM-Wettkampf Steinitz – Lasker 1894: “...dieses Märchen ist aber viel zu tief in den Hirnen der Schachliebhaber verwurzelt, als daβ ein solches Unterfangen [Hübners Versuche, dies zu korrigieren] eine fühlbare Wirkung erzielen könnte. Die These enthebt ihre Anhänger auch von der unbequemen Aufgabe, darüber nachzudenken, welchen schachlichen Fähigkeiten es Lasker verdankte, trotz auβerordentlich geringer Spielpraxis dreiβig Jahre lang der erfolgreichste Spieler der Welt zu bleiben.” (Seiten 227/8)John Nunn und Mihail Marin betonen ebenfalls ausdrücklich, dass sie keinerlei derartige Anzeichen entdeckt hätten, sondern dass Laskers Erfolgen einzig die Qualität seines Spiels zugrunde läge.Die einzige “Psychologie”, die Nunn Lasker zugesteht, war seine Fähigkeit, Züge zu finden, die es seinen Gegnern schwerer machten:In den meisten, nicht taktisch zugespitzten Stellungen (gerade beim Lavieren) hat man die Wahl zwischen mehreren, halbwegs gleichwertigen Kandidatenzügen; ob das Programm dann +0,11 oder +0,12 anzeigt, ist letzten Endes irrelevant.Lasker verstand es, Stellungen herbeizuführen, welche seine Gegner bei dem damaligen allgemeinen Kenntnisstand für gut/gewonnen hielten, obwohl sie es in Wirklichkeit gar nicht waren, wie heutige, Computer-gestützte Analysen belegen. Lasker spielte ein – für damalige Verhätnisse - unglaublich modernes Schach (wie Marin betont: universell und modern) und war, wie schon gesagt, seiner Zeit weit voraus; er war undogmatisch. Selbstverständlich machte er, wie jeder Schachspieler, auch Fehler.Zum Thema Risiko: Nunn meint in seinem Buch (und begründet dies auch), dass Lasker ein sehr gutes risk management betrieben hätte; sein Siegeswille war sehr ausgeprägt, aber er ging nicht zuviel Risiko ein (im Gegensatz zu Tal, der manchmal einfach zu weit ging, s. sein katastrophales Gesamtergebnis gegen den Verteidigungskünstler Kortschnoi; der Einschub stammt von mir). Auch diesbezüglich finde ich Nunn sehr überzeugend.Zum Thema Konterspieler: Lasker war kein klassischer Konterspieler, Dank seines universellen Stils konnte er auch gut kontern, was nicht dasselbe ist. Da er mit Schwarz oft solide und nicht ambitionierte Eröffnungen spielte, geschah dies allerdings recht oft. Ich habe mir Carlsens Siege in den Partien 5 und 6 seines Wettkampfs 2013 gegen Anand noch einmal angeschaut: Sie sind wirklich im typischen Lasker-Stil errungen worden. Eine weitere seiner Stärken war die Fähigkeit, Gegner in ausgeglichenen Stellungen zu überspielen. In Nunns Buch gibt es ein ganzes Kapitel darüber (Endgames: Making Something from Nothing); das zeigt übrigens auch, dass die durchschnittliche Qualität seiner Züge sehr hoch war.Dass Lasker häufiger längere Partien spielte, hängt mit seinem Siegeswillen zusammen: er versuchte alles, um die Partie zu gewinnen (wie Carlsen) und wenn es 100 Züge dauerte. Ich habe sein Turnierbuch St. Petersburg 1909: Er kritisiert Spieler für zu schnelle Friedensschlüsse. Luis Rentero (Organisator des leider nicht mehr existierenden Turniers von Linares) hätte Lasker geliebt.Die Ähnlichkeiten zwischen den Spielstilen Laskers und Carlsens sind erstaunlich; Nunn und Marin haben mich überzeugt.

Beitrag von Hensman

Carlsen`s Spielstil wird von Schachexperten eher oft mit dem von Karpov verglichen,der auch eher ein "Spieler",statt wie Kasparov ein "Forscher" war.Und Lasker selbst,für den das Schachspielen eher nebenbei lief(in erster Linie war er Philosoph),meinte über seine Spielweise:"Ich versuche stets den unangenehmsten Zug für meinen Gegner zu finden".Und Bobby Fischer meinte über Lasker:"Ein Kaffeehausspieler". Das muss man aber so verstehen,das Laskers "schlechte Züge"einem Kalkül dienten.

Beitrag von blunder1

[QUOTE=Hensman;29130]Carlsen`s Spielstil wird von Schachexperten eher oft mit dem von Karpov verglichen,der auch eher ein "Spieler",statt wie Kasparov ein "Forscher" war.Und Lasker selbst,für den das Schachspielen eher nebenbei lief(in erster Linie war er Philosoph),meinte über seine Spielweise:"Ich versuche stets den unangenehmsten Zug für meinen Gegner zu finden".Und Bobby Fischer meinte über Lasker:"Ein Kaffeehausspieler". Das muss man aber so verstehen,das Laskers "schlechte Züge"einem Kalkül dienten.[/QUOTE]Ich weiβ von Fischers "Kaffeehausspieler"-Bemerkung, für die er schon zu Lebzeiten sehr kritisiert worden ist.Ich habe mir meine Meinung nicht einfach so gebildet: Die Groβmeister und hochgeschätzten Schachbuchautoren John Nunn und Mihail Marin haben für ihre Arbeit Laskers Spiel genau untersucht und mich mit ihrer Meinung, dass Carlsen an Lasker erinnert, überzeugt.Seit ca. 20 Jahren hat eine (computergestützte) Neubewertung Laskers eingesetzt: Sowohl GM Hübner (der sein Spiel auch genau untersucht hat), als auch Nunn und Marin bestreiten, dass Lasker "mit Kalkül" schlechte Züge gespielt hätte. Hübner kritisiert die immer noch weit verbreitete Meinung, dass Lasker "psychologische Kriegsführung im Schach" betrieben hätte; er bezeichnet diese "Kriegsführung" als "Märchen".Wie jeder Spieler machte auch Lasker Fehler, nur steckte keine Absicht dahinter.

Beitrag von blunder1

Um mein Thema zu vervollständigen, möchte ich noch zwei Punkte hinzufügen:Gemäß den Großmeistern Benkö und Byrne hat Fischer bereits Anfang der 70er seine Meinung über Lasker revidiert und ihn als „großen Spieler“ bezeichnet.Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Lasker und Carlsen ist ihre außergewöhnliche Intuition, ihr Positionsgefühl. GM Simen Agdestein, der langjährige Trainer von Carlsen, bezeichnete Magnus Rechenfähigkeiten als nicht die allerbesten ([Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://en.chessbase.com/post/mark-dvoretsky-s-final-interview-part-ii". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://en.chessbase.com/post/mark-dvor ... ew-part-ii" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.]), doch auch der berühmte Schachtrainer Mark Dvoretsky betonte Carlsens phantastisches Positionsgefühl. Solche Spieler brauchen nicht so viel zu rechnen.Auch da war Lasker ähnlich: Er lobte die „sparsame Partieführung“, d.h. nicht zu viel zu rechnen, sondern sich auf das Positionsgefühl zu verlassen.Ich glaube, dass diese außergewöhnliche Intuition der Hauptgrund für Laskers erstaunliche Spielstärke in einem hohen Schachalter war (z.B. das Turnier Moskau 1935, als Lasker 66 Jahre alt war), denn mit Ende 30 lässt die Fähigkeit zur Variantenberechnung nach.Sollte Carlsen noch als über 40-jähriger spielen, wird auch er Dank dieses Positionsgefühls immer noch sehr stark sein.

Beitrag von blunder1

Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken und daher auch zitieren.Schon Hübner widerlegt Laskers „psychologische Kriegsführung im Schach“, Nunn und Marin pflichten ihm bei.Nunn betont in John Nunns Chess Course die Ähnlichkeit zwischen den Spielstilen Laskers und Carlsens.Die jüngste Analyse von Laskers Schach, von der ich weiß, ist Kapitel 9 (Dominator of the Chess World) in dem ersten Band der neuen Lasker-Biographie, der letztes Jahr erschienen ist. GM Mihail Marin, der zu den besten Schachbuchautoren gehört, hat dieses Kapitel verfasst, wobei er sich immer wieder auf Hübner und Nunn bezieht:„When analyzing the games below, I could not help but notice the similarities between Emanuel Lasker and Magnus Carlsen. Neither of them shows special ambition or expectations in the opening. Both aim primarily for a type of position that suits their taste and style rather than for an objective advantage. Both display superb perseverance and faith in their powers in equal and apparently dry positions, a trait even more pronounced in the endgame. When the position requires it, they can control complications very well, but as a rule they try to keep the game static, neutralizing their opponents attempts at counter-play or initiative.“ (S. 396)Diese Beschreibung trifft voll ins Schwarze.

Beitrag von blunder1

Mihail Marin hat sich übrigens sehr intensiv mit Carlsens Schach befasst: Die dritte Ausgabe seines Learn from the Legends (Von den Legenden lernen), die 2015 erschienen ist, enthält ein zusätzliches Kapitel über Magnus (Quo Vadis, Magnus?).