Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Eine berühmte Lasker-Stellung unter den Augen von heute“

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Beitrag von Kiffing

In diesem Thread soll es darum gehen, eine berühmte, aber bis vor Kurzem überwiegend falsch interpretierte Stellung aus der Partie zwischen Weltmeister Emanuel Lasker und seinem Kronprinzen Jose Raul Capablanca 1914 in St. Petersburg zu analysieren und mit den alten Mythen um diese Stellung aufzuräumen. Denn fast immer wurde hier Laskers 12. Zug f5!? (siehe Diagramm) von den Kommentatoren mit einem Ausrufezeichen versehen und in Sinne seiner Kompensationsstrategie gewürdigt. [FEN=1]r1b1r1k1/1pp1n1pp/p1pb1p2/8/4PP2/1NN5/PPP3PP/R1B2RK1 w - - 0 12[/FEN]So schreibt Alexander Koblenz etwa in seinem bekannten Lehrbuch Der Weg zum Erfolg: [QUOTE]Hier spielte Lasker unerwartet: 12. f5! Rein statisch gesehen ein schwerer strategischer Fehlzug! Mit einem Schlage wird der Bauer e4 ganz hoffnungslos rückständig und Weiß überläßt gleichzeitig dem Gegner den Punkt e5.Aber wenn wir uns genauer in die Position vertiefen, kommen wir zu der Einsicht, daß Weiß dem Gegner diese positionelle Schwächen nicht ohne dynamische Gegentrümpfe eingeräumt hat.Weiß erhält folgende Möglichkeiten:1. Die Aktivität des schwarzfeldrigen Läufers wird gesteigert2. Die Leistungsfähigkeit des schwarzen Springers und Läufers wird erheblich vermindert3. Weiß kann später versuchen, seinen Springer auf e6 einzunisten [/QUOTE]Ich weiß nicht, welchen Anteil die modernen Computer daran haben, aber heute fand man gewisse konkrete Schwächen in der weißen Kompensationsstrategie rund um den berühmten 12. Zug. John Watson bringt in Geheimnisse der modernen Schachstrategie diese konkrete Schwächen auf den Punkt, indem er die folgende Variante angibt: „13. ...Lxf4 14. Txf4 c5 15. Td1 Lb7 16 Tf2 („16. Td7 Tac8 17. Tf2 Sc6 hilft nur Schwarz“) Tac8! Er schließt: „[...]und es gibt keine gute Möglichkeit, Schwarz daran zu hindern, mit ...Sc6 und ...Se5-c4 oder ...Sd4 fortzusetzen“.Anscheinend ist also wieder ein berühmter Spielzug eines alten Meisters den Analysen von heute zum Opfer gefallen, wie wir wissen, nicht der erste...[Event "St Petersburg f"][Site "St Petersburg"][Date "1914.??.??"][EventDate "?"][Round "?"][Result "1-0"][White "Emanuel Lasker"][Black "Jose Raul Capablanca"][ECO "C68"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "83"]1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bb5 a6 4.Bxc6 dxc6 5.d4 exd4 6.Qxd4 Qxd47.Nxd4 Bd6 8.Nc3 Ne7 9.O-O O-O 10.f4 Re8 11.Nb3 f6 12.f5 b613.Bf4 Bb7 14.Bxd6 cxd6 15.Nd4 Rad8 16.Ne6 Rd7 17.Rad1 Nc818.Rf2 b5 19.Rfd2 Rde7 20.b4 Kf7 21.a3 Ba8 22.Kf2 Ra7 23.g4 h624.Rd3 a5 25.h4 axb4 26.axb4 Rae7 27.Kf3 Rg8 28.Kf4 g6 29.Rg3g5+ 30.Kf3 Nb6 31.hxg5 hxg5 32.Rh3 Rd7 33.Kg3 Ke8 34.Rdh1 Bb735.e5 dxe5 36.Ne4 Nd5 37.N6c5 Bc8 38.Nxd7 Bxd7 39.Rh7 Rf840.Ra1 Kd8 41.Ra8+ Bc8 42.Nc5 1-0

Beitrag von whiteshark

[QUOTE=Kiffing;9176] indem er die folgende Variante angibt: „13. ...Lxf4 14. Txf4 c5 15. Td1 Lb7 16 Tf2 („16. Td7 Tac8 17. Tf2 Sc6 hilft nur Schwarz“) Tac8! Er schließt: „[...]und es gibt keine gute Möglichkeit, Schwarz daran zu hindern, mit ...Sc6 und ...Se5-c4 oder ...Sd4 fortzusetzen“. [/QUOTE] In OMGP1 schreibt Kasparov diese Variante Nimzowitsch zu. 13...Lb7? ist der entscheidende Fehler, der im Nachhinein 12.f5 positiv erscheinen läßt.12.f5 verdient m.E. kein !.

Beitrag von zugzwang

[QUOTE=Kiffing;9176]...So schreibt Alexander Koblenz etwa in seinem bekannten Lehrbuch Der Weg zum Erfolg: Ich weiß nicht, welchen Anteil die modernen Computer daran haben, aber heute fand man gewisse konkrete Schwächen in der weißen Kompensationsstrategie rund um den berühmten 12. Zug. John Watson bringt in Geheimnisse der modernen Schachstrategie diese konkrete Schwächen auf den Punkt, indem er die folgende Variante angibt: „13. ...Lxf4 14. Txf4 c5 15. Td1 Lb7 16 Tf2 („16. Td7 Tac8 17. Tf2 Sc6 hilft nur Schwarz“) Tac8! Er schließt: „[...]und es gibt keine gute Möglichkeit, Schwarz daran zu hindern, mit ...Sc6 und ...Se5-c4 oder ...Sd4 fortzusetzen“.[/QUOTE]Pachman schrieb sehr ähnlich (vermutlich vor Koblenz und ebenso vermutlich nicht als erster) in Schachstrategie III (1. Auflage 1958) S. 217"Ein überraschender Zug, mit dem Weiß den vorteil seiner Bauernmehrheit am Königsflügel völlig aufgibt und freiwillig dem Gegner den Stützpunkt e5 überläßt. Lasker will mit diesem Zug einerseits die Wirkungskraft der schwarzen Figuren einschränken (Lc8!), andererseits die Entwicklung des Läufers f4 vorbereiten. Gleichzeitig rechnet er damit, später das Manöver sd4 und Sce2-f4-e6 durchzuführen."Capablanca hat sich dieser Partie auch "angenommen". Ich werde bei Gelegenheit seine Gedanken hier einstellen.Nur als Anfang:"Capa": "Man hat behauptet, daß dieser Zug die Partie gewinnt, aber mir wäre nichts lieber, als dieser Stellung nochmals zu begegnen."Lasker selbst: "Capablanca war über meinen zug f4-f5 völlig verblüfft. Er konnte sich nicht denken, daß ich dem Bauern e4 die Möglichkeit nähme, nach e5 zu ziehen. Heute spielte ich gegen alle Regeln und Theorien. ein Bauer schließlich, der einem Angriff ausgesetzt ist und nicht vorrücken darf, geht fast immer verloren. Ich hatte indes eine jener Stellungen vor mir, die jeglichen Regeln widersprach."

Beitrag von Kiffing

[QUOTE=zugzwang]"Capa": "Man hat behauptet, daß dieser Zug die Partie gewinnt, aber mir wäre nichts lieber, als dieser Stellung nochmals zu begegnen."[/QUOTE]Tja, aus gutem Grund würde Lasker so auch nicht ein zweites Mal gegen ihn spielen. Aber danke für Deine Zitate. Klar, Laskers psychologischer Schachstil, ich hätte es wissen müssen. Für Lasker zählte nicht der objektiv beste Zug, sondern der für den Gegner am unangenehmste Zug. Aus Tarraschs Monolog machte er einen Dialog und war dem praeceptor germaniae damit überlegen. Da konnte Tarrasch "Dusel-Tabellen" aufstellen wie er wollte, um zu "belegen", wieviel "Glück" Lasker bei seinen Partien immer gehabt hätte. Dieses "Glück" war bei Lasker wohlüberlegtes Kalkül, und wie wir wissen, ist er damit ganz gut gefahren...

Beitrag von zugzwang

[QUOTE=Kiffing;17318]... Für Lasker zählte nicht der objektiv beste Zug, sondern der für den Gegner am unangenehmste Zug...[/QUOTE]12.f5 (!, !?, ?!...) könnte tatsächlich mal so einen psychologischen Zug Laskers darstellen. Aber: Wie die Beschreibungen und Kommentare zeigen, ist er aus handfesten schachlichen Überlegungen entstanden und schuf Vor- wie Nachteile, denen Lasker an diesem Tag am Brett einfach unvoreingenommener gegenüberstand und besser mit ihnen umging.Die Stellung hat (vielleicht) ein dynamisches Gleichgewicht, das aber ungleich schwerer zu spielen ist als in vielen anderen Stellungen - eine "moderne" Kampfstellung.Kasparov in MGP 1 läßt ja das ! hinter 12. f5 stehen.

Beitrag von zugzwang

Andrew Soltis - [url]http://en.wikipedia.org/wiki/Andrew_Soltis[/url] - hat seine aktive Schachkarriere recht früh zugunsten schachschriftstellerischer Tätigkeiten zurückgestellt.In seinem Buch "The 100 Best chess Games of the 20th Century" versucht er sich mutig an einer Qualitäts-Bewertung von Schachpartien.Diese Partie Lasker-Capablanca 1914 gehört bei ihm zu den am meisten überbewerteten Partien an 5. Stelle.Er neigt anscheinend der Bewertung von Amos Burn zu, der diese Partie als eine der schlechtesten Partien von Capablanca bezeichnet.In seinen Partieanmerkungen gibt Soltis keinem Zug von Lasker ein ? und urteilt 12. f5!, 20. b4! und 35. e5!!.Capa "erntet": 13. ...Lb7?, 15. ... Tad8?, 17. ... Sc8?, 21. ... La8?, 26. ... Tae7?.