Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Über hilfsbereite Menschen“

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Beitrag von Kiffing

Wir alle sind aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der es selbstverständlich geworden ist, unser eigenes Handeln auch nach gängigen Werten und Normen auszurichten bzw. diese wenigstens, wie auch immer, zu berücksichtigen. Dies mag in der Postmoderne in einer pluralistischen Gesellschaft schwer sein. Denn, was gut und was böse ist, bestimmt nicht mehr alleine die Kirche, die einst einen Absolutheitsanspruch auf die Moral gehabt hatte. Der Aufklärer Immanuel Kant verlegte gar den moralischen Kompaß in das jeweilige Subjekt hinein. Das Problem ist klar, was in der einen Gruppe als richtig und falsch angesehen wird, kann in der anderen Gruppe wiederum ganz anders gesehen werden, abgesehen davon, daß es selbst innerhalb von Gruppen zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten kommen kann. Doch, allen Zentrifugalkräften zum Trotze, haben sich die beiden Werte Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft in der deutschen Gesellschaft erstaunlich lange gehalten. Ein Deutscher würde nicht im Traum darauf kommen, diese Werte zu hinterfragen. Diese Werte mögen ihm gleichgültig sein, er mag sie zynisch brechen, doch unabhängig davon, ob ihm das stört, wird er immer im Hinterkopf haben, daß er, ganz sachlich gesprochen, unrecht handelt.Zu der Ehrlichkeit hatte ich sowieso immer ein kritisches Verhältnis. Die Deutschen haben nun einmal als vielleicht einziges Volk der Welt die Ehrlichkeit vor die Höflichkeit gesetzt, und hierzulande wird Ehrlichkeit nun einmal gerne dafür mißbraucht, seine Mitmenschen wie ein Maniac anzufallen. Ehrlichkeit geben auch Dieter Bohlen oder Peer Steinbrück vor, entweder hoffnungsfrohe Jugendliche in aller Öffentlichkeit zu demütigen oder sich auf außenpolitischer Ebene wie der Elefant im Porzellanladen zu gerieren.Was die Hilfsbereitschaft angeht, so hätte ich diesen Wert in meinen Studienzeiten wohl kaum in Frage gestellt. Doch man wächst mit dem Leben, man wächst mit den Erfahrungen, und man lernt generell nie aus. Seitdem ich nun in einem deutschen Betrieb (Holzhandwerk) arbeite, ist mir die Hilfsbereitschaft als Wert gänzlich vergällt. Warum das so ist, erzähle ich gerne.Im Prinzip steht man in einem deutschen Betrieb immer unter Beobachtung. Es ist fast unmöglich, in Ruhe zu arbeiten. Man steht etwa vor der Dekupiersäge, vor der Bandsäge oder anderen Werkzeugen, hat seinen Plan im Kopf und möchte diesen nun gerne ausführen, schon kommt die erste hilfsbereite Nervensäge an, „erklärt“ einem ungefragt, wie man die Arbeit „richtig“ macht (obwohl die eigene Lösung natürlich mindestens genauso gut ist) und läßt sich nicht mehr abschütteln. Oft werden einem dann noch die Sachen aus der Hand genommen, damit der „hilfsbereite“ Kollege einem „zeigen“ kann, wie man die Arbeit „richtig“ macht, nur um einem seine Arbeit bei dieser Demonstration zu zerstören. Inkompetenz und Ignoranz gehen nun einmal gerne Hand in Hand. Dabei sind sie penetrant und unkreativ, halten ihre eigene Technik für die „Richtige“ und belehren einem mit formelhaften „Vorschriften“, die auf die eigene Arbeit überhaupt nicht angewendet werden brauchen oder in diesem Falle gar kontraproduktiv sind. Vor allem darf man in einem deutschen Betrieb niemals den Anschein erwecken, als wäre man sich gerade unsicher. Denn das erhöht die Gefahr ungefragter und aufdringlicher Nervensägen signifikant. Deshalb, selbst wenn Du gerade überlegst, wirke immer selbstsicher und souverän!Das Schlimmste ist, wenn man ihnen höflich sagt (auch wenn man sie am liebsten auf den Mond schießen würde), daß man keine Hilfe braucht, daß sie dann beleidigt sind oder gar wütend werden. Es kann jederzeit ein Streit ausbrechen, der mit deutscher Konsequenz geführt wird. Mit anderen Worten, diese „hilfsbereiten“ Kollegen „helfen“ einem nicht, weil sie einem ganz altruistisch helfen wollen, sondern um damit lediglich eigene ominöse Bedürfnisse zu befriedigen. Sie helfen nicht, sondern schaden dem anderen, und sie fühlen sich dabei auch noch moralisch auf der richtigen Seite!Deutsche Arbeiter, zumindest die in meinem Betrieb, sind oft gar nicht so sehr an ihrer eigenen Arbeit interessiert. Vielmehr interessiert sie, was andere machen, um sie dann belehren zu können bzw. ihnen ihre „Hilfe“ aufzuzwingen. Sie halten ihren eigenen beschränkten Radius für unzweifelhaft richtig und wollen diesen anderen aufzwingen. Sie halten sich selbst für einen Chef und verhalten sich ihren eigenen Kollegen gegenüber wie ein solcher. Sie sind oberlehrerhaft, besserwisserisch, ignorant, unkreativ, dumm, bescheuert, hündisch, teilweise wahnsinnig und haben eine unangenehme Blockwartmentalität an sich. Sie haben keinen Respekt vor dem inneren Selbst des anderen! Ja, es ist wahr, deutsche Kollegen sind oft schlimmer als der Chef!Auch wenn der Artikel gar nicht danach klingt, aber mir geht es nicht darum, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft in Bausch und Bogen zu verdammen. Jeder, der einen guten Freund hat, weiß, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können. Und jeder, der schon einmal in Not war und alleine nicht herausfand, weiß die Hilfsbereitschaft anderer zu schätzen. Es ging mir darum, aufzuzeigen, daß nicht jeder positiv klingende Wert unkritisch übernommen werden sollte, sondern durchaus auch Auswüchse haben kann, die diese Werte in ihre Gegenteile verkehren oder auf andere Art kontraproduktiv sind. Und seid auf der Hut, nicht jeder, der vorgibt hilfsbereit zu sein, will Dir wirklich helfen!

Beitrag von yury

Es tut mir leid, dass Du in Deinem Betrieb schlechte Erfahrungen mit Deinen KollegInnen gemacht hast, aber ich würde das nicht auf die Befolgung von irgendwelchen Werten schieben. Vielleicht haben wir aber einfach nur unterschiedliche Definitionen der Werte Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft.Du sagst, dass Peer Steinbrück und Dieter Bohlen "vorgeben", ehrlich zu sein. Das ist nun wirklich alles, aber nicht ehrlich.Ehrlichkeit bedeutet für mich, andere Menschen nicht bewusst täuschen zu wollen, sondern möglichst geradeheraus zu sagen, was man denkt. Höflichkeit ist in den meisten Situationen das genaue Gegenteil: Statt offen miteinander zu reden, tauscht man formelhafte Floskeln aus, die einem irgendwelche gesellschaftlichen Konventionen vorschreiben. Deshalb ist es oft schwierig, ehrlich zu sein, denn man muss nicht nur wissen, was man eigentlich denkt, sondern es auch so herüberbringen, dass der oder die andere einen versteht und nicht verletzt wird. Demgegenüber ist Höflichkeit bequem, weil man nicht selbst denken muss, sondern bekannten Konventionen folgen kann, die vielleicht ursprünglich ihren Sinn gehabt haben mögen, diesen aber auf dem Weg zur nichtssagenden Standardformel irgendwann eingebüßt haben.Der Konflikt zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit ist damit eigentlich der zwischen Oberfläche und tieferem Verständnis, zwischen bequemer Lüge und Wahrhaftigkeit.Wenn jemand den Drang hat, allen Menschen um sich herum erklären zu wollen, was sie alles falsch machen, dann würde ich das Besserwisserei nennen und nicht Hilfsbereitschaft. Echte Hilfs-Bereitschaft heißt, dass man bereit ist, anderen in schwierigen Situationen zu helfen und nicht, dass man sie ständig mit "Hilfe" terrorisiert, die keine ist. Wenn man den Wert der Hilfsbereitschaft, so wie ich ihn verstehe, verinnerlicht hat, dann ist man sicherlich keinE BesserwisserIn.Abgesehen mal von Deinen Definitionen der Werte halte ich es für Unsinn, Deine negative Erfahrungen gleich auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen und dann auch noch in nationalen Kategorien erklären zu wollen. Warum sollte die Besserwisserei Deiner MitarbeiterInnen irgendetwas mit ihrer Nationalität zu tun haben? Was führt Dich zu so kühnen Aussagen wie die, "deutsche Arbeiter" seien nicht an ihrer eigenen Arbeit interessiert, sondern "oberlehrerhaft, besserwisserisch, ignorant, unkreativ, dumm, bescheuert, hündisch, teilweise wahnsinnig und haben eine unangenehme Blockwartmentalität an sich" und "oft schlimmer als der Chef". Das klingt mir mehr nach einer persönlichen Abrechnung mit ungeliebten KollegInnen als nach einer fundierten Aussage über die "deutschen Kollegen".Selbstverstärkende Klischees werden dadurch befeuert, dass Menschen ihre selektiv wahrgenommenen Erfahrungen generalisieren und dann mit vereinfachten Deutungsmustern erklären. Genau das - nur in ungewöhnlicher Form, weil Dein Klischee nicht zum gesellschaftlichen Standardrepertoire gehört - macht Deinen Beitrag aus.

Beitrag von Kiffing

Das sollte eigentlich eine Satire sein, die sich ein wenig am englischsprachigen Style orientiert. Ich habe mir mal Zeit genommen, ein wenig auf englischsprachigen Seiten herumzustöbern, um herauszufinden, wie Ausländer uns Deutsche sehen, wenn sie länger im Land waren, dort gearbeitet haben usw. Dort fand ich dann die entsprechenden ähnlich vorgetragenen Vorwürfe, die z. T. noch drastischer waren als die meinigen. Beliebt waren da lange Ketten an [URL="http://www.justlanded.com/francais/Allemagne/Forum/Culture/germany-sucks2"]beleidigenden Adjektiven[/URL] wie: „I agree with the people who said Germany sucks, Ive lived here for 2 yrs now.. and no matter what part i go to. It SUCKS! and they are rude people who hate life, and they think their country is the best, which it isnt. Its full of sadness, hate, and anything negative you can think of. Its been rare that Ive come across with a German thats been actually nice and have nothing against other people from other countries, I think they are all selfish!” Das fand ich wirklich witzig, und irgendwo in meinem Beitrag kam sowas ja auch vor. Natürlich gab es auch fundiertere Aussagen über die Deutschen. Allerdings gab es auch Ausländer, die es hier nicht so schlimm fanden, das waren etwa Menschen, die den direkten Stil schätzen, der ja auch seine Vorteile haben kann. Ich erinnere mich bspw. an einen US-Amerikaner, der diesen direkten Stil als Wohltat empfunden hat, weil er davon angenervt war, daß er in seiner Heimat z. B. beim Einkaufen von bezahlten Hilfskräften immer mit einem strahlenden Zahnpastalächeln begrüßt und mit wohlklingelnden Floskeln bedacht wird. Dabei sind diese Personen lediglich dazu eingestellt worden, um den Kunden dazu zu bringen, soviel Geld wie möglich in diesem Laden auszugeben. Ein anderer Kritikpunkt war der, daß man in seinem Land seine Mitmenschen nicht wirklich zielführend fragen kann, wie es einem geht. Denn diese Frage ist in seinem Land zwar standardisiert, die Antwort ist aber immer dieselbe: „Fine, thank you“.Ich habe übrigens kaum Probleme in meinem Betrieb, auch wenn es vielleicht danach klang. Aber meine Kollegen haben es sich längst abgewöhnt, mir „helfen“ zu wollen. :DDefinitionen über Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft habe ich übrigens nicht abgegeben, sondern versucht, durch die Schilderung negativer Auswüchse von Verhaltensweisen, die letztendlich auf diese beiden Werte zurückzuführen sind, dazu anzuregen, auch allgemein anerkannte Werte nicht unkritisch eins zu eins zu übernehmen. Denn wie so oft im Leben hat alles seine Kehrseite.Zu Deinen eigenen vorgetragenen Moralvorstellungen, so hast Du mich sehr gut daran erinnert, was mich an der Linken (vor allem bei jungen Linken) immer stört (keine Angst, an der Rechten stört mich noch viel mehr): Eine gewisse Neigung zu einem naiven moralischen Rigorismus, der gerne allen Menschen aufgestülpt wird, ohne zu erkennen, daß jeder Mensch verschieden ist und sich aus einem individuellen Erfahrungsset bedient und demzufolge seine eigene, auch moralische Identität entwickeln muß. Diese Anschauungen korrespondieren dann gerne mit einer von jedem Humor und jeder Leichtigkeit befreiten Humorlosigkeit, so daß es gerade in Diskussionen über weltanschaulichen Fragen bierernst zugeht wie in einem Kloster. Was soll ich denn davon halten, wenn Du praktisch forderst, daß jeder Mensch immer offen sein müsse wie ein Buch? :hmpf: Kannst Du Dir nicht vorstellen, daß es gute Gründe gibt, nicht jedem dahergelaufenen Mitmenschen gleich dazulegen, was man selbst für eine Person ist bzw. was man gerade denkt? Im übrigen möchte ich auch gerne eine Lanze für die Höflichkeit brechen. Wären wir Menschen nur noch ehrlich, hätten wir noch mehr Krieg als sonst, nämlich immer.

Beitrag von yury

Sorry, ich mag humorlos sein, jedenfalls fand und finde ich nicht, dass Dein Beitrag als Satire erkennbar ist. Ich hätte Dir derartige (ernst gemeinte) Ausführungen jedenfalls durchaus zugetraut.[QUOTE=Kiffing;19136]Definitionen über Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft habe ich übrigens nicht abgegeben, sondern versucht, durch die Schilderung negativer Auswüchse von Verhaltensweisen, die letztendlich auf diese beiden Werte zurückzuführen sind, dazu anzuregen, auch allgemein anerkannte Werte nicht unkritisch eins zu eins zu übernehmen. Denn wie so oft im Leben hat alles seine Kehrseite.[/quote]Richtig, und ich habe versucht, zu erläutern, dass die von Dir geschilderten Verhaltensweisen jedenfalls nach meiner Vostellung von Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht auf diese beiden Werte zurückgeführt werden können.[QUOTE=Kiffing;19136]Zu Deinen eigenen vorgetragenen Moralvorstellungen, so hast Du mich sehr gut daran erinnert, was mich an der Linken (vor allem bei jungen Linken) immer stört (keine Angst, an der Rechten stört mich noch viel mehr): Eine gewisse Neigung zu einem naiven moralischen Rigorismus, der gerne allen Menschen aufgestülpt wird, ohne zu erkennen, daß jeder Mensch verschieden ist und sich aus einem individuellen Erfahrungsset bedient und demzufolge seine eigene, auch moralische Identität entwickeln muß.[/quote]Ich kann weder erkennen, was Du mit "moralischem Rigorismus" meinst noch was das mit "der Linken" zu tun haben soll. Wenn ich meine (positive) Auffassung von Werten wie Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft darlege, dann beanspruche ich dafür keine Absolutheit. Wo habe ich denn "allen Menschen" etwas "aufgestülpt"?[QUOTE=yury]Ich mag Schokolade.[/QUOTE][QUOTE=Kiffing]Was mich an jungen Linken immer stört, ist, dass sie ihren naiven Essensrigorismus allen anderen Leuten überstülpen, obwohl doch jeder Mensch aufgrund von verschiedenen Erfahrungen seine eigene geschmackliche Identität entwickeln muss![/QUOTE][QUOTE=Kiffing;19136]Was soll ich denn davon halten, wenn Du praktisch forderst, daß jeder Mensch immer offen sein müsse wie ein Buch? :hmpf: Kannst Du Dir nicht vorstellen, daß es gute Gründe gibt, nicht jedem dahergelaufenen Mitmenschen gleich dazulegen, was man selbst für eine Person ist bzw. was man gerade denkt? Im übrigen möchte ich auch gerne eine Lanze für die Höflichkeit brechen. Wären wir Menschen nur noch ehrlich, hätten wir noch mehr Krieg als sonst, nämlich immer.[/QUOTE]Macht es Dir eigentlich Spaß, Positionen zu widersprechen, die ich nie vertreten habe? Weder forderte ich, dass jeder Mensch offen sein soll wie ein Buch, noch, dass man jedem dahergelaufenen Menschen darlegen muss, was man gerade denkt. Meine Verteidigung der Ehrlichkeit steigerst Du zuerst in "wären wir Menschen nur noch ehrlich", um der dadurch konstruierten Situation mit einem eigenartigen Argument zu begegnen: Warum sollte es dann "immer" Krieg geben?Tja. Ich bin offenbar nicht geeignet für Deinen Humor. ;)