Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Sinn und Unsinn der Kotov-Methode“

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Beitrag von Kiffing

Bekannt sind die Werke von Alexander Kotov: „Denke wie ein Großmeister“ und „Spiele wie ein Großmeister“. Vielleicht war er der erste Großmeister, der den Vorgang der Variantenberechnung wissenschaftlich aufschlüsseln wollte. Auf jeden Fall haben sich auf ihn unzählige Schachspieler berufen.Seine Lehren grob zusammengefaßt sind, man solle jede Variante nur einmal durchgehen, und man solle jeden Pfad für sich nehmen und nicht von Variante zu Variante hin- und herspringen. Tatsächlich ist die Methode gut dafür geeignet, das Vorgehen der Variantenberechnung zu systematisieren und eine gewisse Ordnung im Kopf herzustellen. Trotzdem dürften diese Lehren aber nicht der Weisheit letzter Schluß sein. John Nunn hat sich etwa kritisch zu Kotovs Methode geäußert, ich habe das entsprechende Werk aber nicht gelesen. So ist es gerade bei Amateurspielern oft so, daß sie, wenn sie eine Variante durchgegangen sind, dabei viele Fehler gemacht haben und wichtige Sachen übersehen haben. Da kann ein zweiter oder ein dritter „Kontrollgang“ für Abhilfe sorgen. Auch mit seiner zweiten Lehre ist es so eine Sache. Vielleicht ist es falsch, einen einheitlichen Masterplan zu schaffen, an der sich alle anderen zu richten haben. Denn jeder Mensch ist ein Individuum mit ganz eigenen Bedürfnissen. So können Schachspieler also auch Denkmethoden beim Variantenberechnen haben, die zu ihnen mehr passen und die für sie deshalb das Beste wäre. Manchen liegt dieses Springen einfach und es gehört zu ihrer Natur. Bei dem Lernen ist es ja auch so, der eine lernt am besten akustisch, der andere visuell und der andere gar haptisch. Auch da wäre es ungesund, das „optimale Lernen“ zu vereinheitlichen. Ist es nicht ohnehin so, daß jeder Schachspieler quasi automatisch versucht, die Varianten so zu berechnen, daß er diese Aufgabe am ehesten bewältigen kann?Ich gebrauche die Kotov-Methode jedenfalls allenfalls so, wie ich die schachlichen Regeln behandele, als Richtlinien. Sie dienen ein wenig der Orientierung, aber ich verabsolutiere sie nicht und handele so wie die Situation es verlangt, bin also bereit, mich jederzeit von dieser Richtlinie emanzipieren zu können.

Beitrag von zugzwang

[QUOTE=Kiffing;1552]...John Nunn hat sich etwa kritisch zu Kotovs Methode geäußert, ich habe das entsprechende Werk aber nicht gelesen. ...[/QUOTE]In "Secrets of Practical Chess" ("Schachgeheimnisse") beschäftigt sich Nunn gleich zu Anfang mit Kotovs Variantenbaum und beleuchtet Vor- und Nachteile. Er verweist auch kurz auf Tisdall "Improve Your Chess Now", der Kotovs Methodik auch untersuchte.Nunn nennt 2 Hauptnachteile:1. extreme Ineffizienz durch die StarrheitBeispiel von Nunn: Ein Angriff läßt sich mit 2Verteidigungszügen begegnen.Der erste Zug wird kräfteraubend streng nach Kotov analysiert (nicht Hin- und Herspringen in den Kandidatenzügen!) und mit unklarem Ergebnis beiseitegelegt.Der 2. Verteidigungszug führt rasch dazu, daß man vom geplanten Angriff Abstand nimmt.Fazit: Zeit und Energie verschwendet durch Starrheit im Denksystem!2. Kritikpunkt: Zu geringes Ausnutzen von Synergieffekten.Bei Berechnen der 2. Variante wird plötzlich ein Motiv deutlich, das auch in der 1. Variante bedeutsam sein könnte, dort aber noch nicht erkannt wurde.hier drängt es sich geradezu auf, die 1. Variante neu zu durchforsten und nicht zu einer eventuellen 3. überzugehen, insbesondere wenn die 2. Variante nicht vorteilhaft oder spielbar endet.Nunn empfiehlt die kurze Prüfung der Hauptvarianten, um zu sehen, ob eine bereits eine klare Bewertung oder klarere Struktur aufweist.Er erkennt aber auch das Problem der Restbilder, die beim Springen von Variante zu Variante entstehen.[QUOTE=Kiffing;1552]...Ich gebrauche die Kotov-Methode jedenfalls allenfalls so, wie ich die schachlichen Regeln behandele, als Richtlinien. Sie dienen ein wenig der Orientierung, aber ich verabsolutiere sie nicht und handele so wie die Situation es verlangt, bin also bereit, mich jederzeit von dieser Richtlinie emanzipieren zu können.[/QUOTE]Variantenberechnung mit Technik und Disziplin ist eine tatsächliches, sehr praktisches Trainingsfeld im Schach. Wer hier nicht konzentriert und regelmäßig trainiert und die Trainigsergebnisse auswertet wie Bewegungssportler, der wird im tatsächlichen Einsatz häufig scheitern und Fehler begehen, die nicht sein müssen.Für eine Verbesserung des eigenen Spielniveaus ist hier ein breites Feld, bei dem mit Fleiß Fertigkeiten erworben werden können, die andere bereits als Talent mitbringen.Weitere Literatur zum Thema Variantenberechnung:Soltis "The Inner Game of Chess" (How to calculate and win) - McKay 1994Aagaard "Verbessern Sie Ihre Variantenberechnung im Schach" - Qualitychess 2007(Excelling at Chess Calculation 2004)

Beitrag von Kiffing

Manchmal finde ich es schade, daß wir aus gutem Grund auf das Renommee-System verzichtet haben. :D Aber super Beitrag, wo endlich klar wird, was Nunn will, und wo Kotov und Nunn einander gegenübergestellt werden. Nunns Ansatz ist mir auch tausendmal sympathischer, weil flexibler, und sieht nach einer klaren modernen Weiterentwicklung aus. Ich selbst bin wahrscheinlich stark durch den Schachhistoriker Dr. Edmund Bruns und seinem Werk über Schach und Kulturgeschichte geprägt, aber wieder einmal wird deutlich, wie sehr das Schach und die Kultur miteinander verwachsen sind. Kritik an Kotovs System wie: "Starrheit im Denksystem" können auch gut als eine generelle Kritik an dem System, aus dem Kotov kam, aufgefaßt werden, das mindestens nach einer Generalüberholung verlangte.