Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Brisante Vorfälle beim Interzonenturnier 1982 in Moskau“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/kqZFf40.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/kqZFf40.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Der WM-Qualifikationszyklus 1982-1984 sollte zur Qualifikation zum WM-Kampf 1984 in Moskau gegen Weltmeister Anatoli Karpov führen. Längst spielte man zumindest ab dem Kandidatenturnier im KO-System gegeneinander und davor in Interzonenturnieren, um zum einen der Gefahr von Absprachen v. a. der sowjetischen Spieler zu begegnen, und zum anderen, um auch Spielern anderer Nationen die Chance zu geben, sich schachlich in den Vordergrund zu spielen. Dieser letzte Punkt war politisch gewollt und entsprach der Philosophie des Fide-Präsidenten von 1970-1978, Max Euwe, der die Kriterien zum Erwerb des Großmeistertitels so weit heruntergeschraubt hatte, daß in der Folge die heute vielfach beschworene Titel-Inflation einsetzte. Jedes Entwicklungsland sollte möglichst einen Großmeister haben und damit einen Wegbereiter für das Schach in seinem Lande, der dort das Interesse für das Königliche Spiel ankurbelt. Den Qualifikationszyklus kurz erklärt, so fing dieser mit drei Interzonenturnieren im Rundensystem an, die sechs Qualifikanten trafen auf die beiden gesetzten Finalisten des letzten Kandidatenturnierfinales, in diesem Fall auf Dr. Robert Hübner und Viktor Kortschnoi. Es blieben also acht Spieler übrig, und diese sollten nun im Kandidatenturnier miteinander im KO-System die Klingen kreuzen. Es gab drei KO-Runden, und wer sich letztendlich durchsetzte, der durfte im WM-Finale gegen Anatoli Karpov antreten.Die drei Interzonenturniere in diesem Zyklus waren 1982 in Moskau (UdSSR), Las Palmas (Gran Canaria) und in Toluca (Mexiko) angesetzt. Doch in Moskau sollte das Interzonenturnier nicht seinen gewohnten Verlauf nehmen. Dafür sorgten Boris Gulko und seine Freunde und der sowjetische Apparat. Der jüdische sowjetische Großmeister Boris Gulko hatte 1979 zusammen mit seiner Frau Anna einen Ausreiseantrag nach Israel gestellt, der ihm lange verwehrt wurde. Erst 1986 durfte er im Zuge der Perestroika das Land verlassen (er entschied sich nun für die USA anstelle von Israel) und mußte bis dahin als „Refjusnik“ sieben harte Jahre überstehen. Die Refjusniks, d. h. die Abgelehnten bildeten in der UdSSR einen Teil der sich vor allem nach der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975 immer mehr ausbreitenden Dissidentenszene, die sich einen harten Kampf mit dem sowjetischen Regime lieferte. Bei der Konferenz in Helsinki, an der auch die UdSSR teilnahm und unterschrieb, wurden verbindliche Menschenrechte für jedes unterzeichnende Land festgelegt. Eine der Bedingungen von Helsinki war, daß jeder Staat seine Bürger darüber informieren mußte. Genau das hatte den Dissidenten in der UdSSR einen Ansatzpunkt für ihre Tätigkeit gegeben. Die Sowjetunion mußte sich stets hüten, vor allem gegen international bekannte Dissidenten hart vorzugehen, weil sie Reputation in der Welt verspielen und sich eines zunehmenden Drucks ausgesetzt sehen würde. Boris Gulko war nach der Ablehnung seines Ausreiseantrags solch ein Dissident mit Prominentenbonus. Er hatte sich schon 1976 dem Unbill seines Systems ausgesetzt, als er sich zusammen mit Botwinnik, Spasski und Bronstein geweigert hatte, eine denunziatorische Unterschriftenkampagne gegen den geflüchteten Viktor Kortschnoi zu unterschreiben. Er war ein international anerkannter Großmeister mit Beziehungen auch außerhalb seines Landes. Er war zusammen mit Josif Dorfman 1977 der Gewinner der UdSSR-Meisterschaft in Leningrad und vertrat sein Land 1978 bei der Schacholympiade in Buenos Aires.1982 entschied sich Boris Gulko nun dafür, seinen Prominentenbonus auszuspielen. Das Interzonenturnier in Moskau war für ihn eine willkommene Gelegenheit, auch internationale Publicity zu erzielen. Zu diesem Zweck drohte er dem Regime mit einer Demonstration bei diesem Turnier, was weltweit für einen Skandal gesorgt hätte. Gulko erhoffte sich, daß der Staat ihn lieber ziehen lassen würde als diese Demonstration zu riskieren. Er hatte sogar den Teilnehmern der Moskauer Schnellschachmeisterschaft nur kurz vor dem Interzonenturnier im Sokolniki-Park Briefe verteilt und sie darin zu dieser Demonstration eingeladen (vergleiche Gulko, Kortschnoi, Popow, Felschtinski, der KGB setzt matt, Exzelsior-Verlag Berlin 2009, S. 55f.). Seine Hoffung sollte sich in diesem Fall nicht erfüllen. Seine Wühlarbeit überschattete aber aus Sicht des „sklerotischen“ (Gulko) Breschnew-Systems das ganze Schachturnier. Die erste Maßnahme des Regimes war eine Turnierverlegung, Gulko:[QUOTE]Der KGB nahm unsere Drohung sehr ernst. Sie verlegten das Interzonenturnier von dem ursprünglich geplanten Hotel „Sputnik“ wenige Blöcke weiter den Lenin-Prospekt hinauf in das „Zentrale Haus der Touristen“. Nach einer Ortsbegehung verstand ich ihre Beweggründe. Das Hotel war von allen Seiten zugänglich, das „Haus der Touristen“ umgab dagegen ein hoher Zaun. In dieses Gebäude gelangte man nur durch den Haupteingang. Dann schürte der KGB ein ganzes Paket von Sicherheitsmaßnahmen für das Turnier. Leute, die an der Organisation beteiligt waren, erzählten mir, daß ein ganzes Bataillon von Sicherheitsleuten abgestellt wurde. Und das alles nur, um die Veranstaltung gegen zwei abgelehnte Schachspieler zu verteidigen!Zum ersten Mal in der Geschichte des sowjetischen Schachs wurde das Turnier für die breite Öffentlichkeit gesperrt. Es war nicht möglich, eine Eintrittskarte für das Interzonenturnier zu kaufen. Zugang zum Spielsaal erhielt nur, wer einen Passierschein vom Zentralen Schachklub bekommen hatte. All diese Maßnahmen zeigten uns, wie wichtig es für den KGB war – und nicht nur für ihn, sondern für den gesamten sowjetischen Staat -, Anna und mich nicht gehen zu lassen. Es hat mich nicht überrascht, daß dieser surreale Staat sieben Jahre nach den Ereignissen, die ich hier beschreibe, zusammengebrochen ist[/QUOTE]Gulko, S. 56Gulko und seine Mitstreiter sollten sich allerdings nicht so schnell geschlagen geben. Am Vorabend der 1. Runde wollten sie öffentlichkeitswirksam vor dem Turniergelände ein Plakat entrollen mit der in russischen und englischen Lettern angefertigten Botschaft: „Laßt uns nach Israel“. Was dann geschah, wieder Gulko:[QUOTE]Als die Zeit für die Demonstration gekommen war, nahmen wir uns ein Taxi. Natürlich haben wir kein richtiges, sondern ein Schwarz-Taxi genommen. Wir sprangen am Ende des Lenin-Projekts aus dem Auto und sahen vor dem „Haus der Touristen“ eine riesige Traube von Schachfans, die das Spiel von Kasparov, Tal und den anderen Helden sehen wollten, die am Interzonenturnier teilnahmen. Sie wußten aber nicht, daß ihnen der Einlaß verwehrt bleiben würde. Quasi als Kompensation wartete auf sie eine andere Episode aus dem Leben eines SchachgroßmeistersSobald wir auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig angekommen waren, rollten wir unser Plakat aus. Die Menge sah uns nicht. Die Leute starrten auf die Tore und wandten uns den Rücken zu. Aber plötzlich kam Bewegung in die Masse, die ersten drehten sich nach uns um. Jetzt bemerkten uns auch die KGB-Agenten, die auf uns gewartet hatten. Eine massive kahlköpfige Gestalt löste sich von der Eingangstür und raste mit riesigen Schritten auf uns zu. Er erinnerte an einen rennenden Gorilla. Diese Kreatur warf sich auf das Plakat und zerfetzte es in tausend Stücke. Dann ergriff er uns und schob uns zu einem Polizeiwagen, der in der Nähe wartete [/QUOTE]Gulko, S. 58Dieses Ereignis sollte den Höhepunkt der rund ums Interzonenturnier 1982 in Moskau gestarteten politischen Aktionen darstellen. Gulko und seine Freunde wurden nach nur wenigen Stunden nach einem Verhör entlassen. Für sie ging der Kampf um die Ausreise nun weiter. Schachlich setzten sich in den Interzonenturnieren Garri Kasparov und Alexander Beliavsky (Moskau), Lajos Portisch und Eugenio Torre (Toluca) und Zoltan Ribli und Wassili Smyslow (Las Palmas) durch. Der WM-Zyklus hatte gerade erst begonnen, und in einer politisch aufgewühlten Zeit, in denen bereits die Totenglocken des gesamten Machtbereichs der Warschauer-Pakt-Staaten läuteten, sollten noch die Pasadena-Affäre sowie später das gesamte WM-Finale 1984 in Moskau zwischen Kasparov und Karpov für erhebliche politische Turbulenzen sorgen. Seit der WM 1972 zwischen Fischer und Spasski in Reykjavik war Schach immer ein Politikum gewesen und sollte es bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1990/91 auch bleiben. Boris Gulko blieb wie Garri Kasparov auch später noch politisch aktiv, so weigerte er sich an der Schach-WM 2004 im lybischen Tripolis teilzunehmen aufgrund antisemitischer Äußerungen des heute untergegangenen Regimes von Muammar al-Gaddafi. Auch die Despotenfreundlichkeit des heute immer noch amtierenden FIDE-Präsidenten Kirsan Iljumschinow hatte diesen Vorfall ermöglicht.