Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Petrows Einfluß in der Schachgeschichte“

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Beitrag von Kiffing

Alexander Dmitrijewitsch Petrow (1794-1867) hat schachlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewirkt und dort seine Spuren hinterlassen. Er gehörte zu den stärksten Spielern seiner Zeit, und er war nicht nur als Spieler, sondern auch als Theoretiker und Schachkomponist geschätzt. In diesem Thread wird der russische Schachmeister vorgestellt, sein Einfluß auf die russische Schachschule untersucht, und es wird geklärt, warum er in der Schachwelt den Beinamen „Philidor des Nordens“ erhielt. Durch diesen Beinamen kann er vorschnell als eine Art „russischer Philidor“ aufgefaßt werden, wodurch verlorengeht, daß Petrow Philidor nicht nur rezipierte, sondern auch einer strengen Kritik unterzog, so daß er Philidors Ideengebäude schöpferisch weiterentwickeln konnte.Wenn von frühen schachlichen Wunderkindern die Rede ist, dann denken die meisten Schachspieler wohl in erster Linie an Philidor, Reshewsky und Capablanca. Doch auch Petrow war ein solches Wunderkind. So weiß Werner Wagner von der Berliner Zeitung 2007 zu berichten, daß Alexander Petrow schon [URL="http://www.berliner-zeitung.de/archiv/alexander-petrow,10810590,10458564.html"]mit sieben Jahren[/URL] „sehr gut Schach spielen konnte“. Über die weitere Entwicklung Petrows berichtet Rolf Voland:[QUOTE]Petrow wurde im Gouvernement Pskow geboren und gab sich seit seinem 10. Lebensjahr neben dem Besuch einer Petersburger Privatschule zielstrebig dem Schach hin. Als 15jähriger gehörte er zu den stärksten Meistern der russischen Metropole und war gern gesehener Gast in allen Schachzirkeln. Bis zu seinem Tod blieb Petrow der unbestritten bedeutendste Praktiker und Theoretiker Rußlands. Obwohl es Petrow nicht vergönnt war, mit den größten europäischen Meistern seiner Zeit - Deschappeles [Deschapelles - Kiffing], Labourdonnais und MacDonnell die Kräfte zu messen, gestattet es der Inhalt seines Gesamtwerkes, ihn diesen Spielern gleichzusetzen.[/QUOTE]Rolf Voland, Strategen im Hinterland, Das UdSSR-Schach 1941-1945, Schachverlag Kania, 1. Auflage 1998, S. 9f.Im übrigen begann Petrow seine berufliche Laufbahn akademisch. Der mit zahlreichen Talenten gesegnete und aus begüterten Verhältnissen stammende Russe war Professor für Maschinenbau in der Universität von St. Petersburg, und er ging 1840 als „hoher Beamter“ ins russisch besetzte Kongreßpolen, wo er es 1840 in Warschau zum Staatsrat brachte und geadelt wurde (Wagner). Ein weiterer russischer Meisterspieler der damaligen Zeit, Carl Friedrich Jänisch, dessen Vorfahren im 17. Jahrhundert aus Schlesien in den russischen Westen auswanderten, und der mit Petrow zusammen ein schachlich äußerst produktives kongeniales Tandem bildete, widmete seinem Freund den ersten Band seiner Analyse nouvelle (vgl. KARL, das kulturelle Schachmagazin, 2/2015, S. 24 - Artikel von Michael Negele).Alexander Petrow hatte allerdings noch vor Jänisch eines der ersten russischen Schachbücher veröffentlicht. Es handelt sich dabei um sein 1824 (Wikipedia gibt als [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Dmitrijewitsch_Petrow". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "erstes russisches Schachbuch" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.] ein 1821 erschienenes Werk von Butrimow an) veröffentliches Werk Das Schachspiel, systematisch geordnet unter Hinzufügung der Partien Philidors und Kommentaren zu diesen (Wagner). Sowohl Jänisch (siehe z. B. sein Jänisch-Gambit) als auch Petrow entsprachen in ihrem schachlichen Wirken dem Zeitgeist der Aufklärung, durch den das Schach sich von einer Kunst zu einer Wissenschaft erhob. Bekannt sind Petrows Untersuchungen zur Russischen Verteidigung, die im englischsprachigen Raum immer noch nach ihm benannt und als Petrow Defence bekannt ist. Petrow erfand zudem das aus dem Läuferspiel hervorgehende Gambit 1. e4 e5 2. Lc4 Lc5 3. Sf3 d6 4. c3 De7 5. d4. An diesem Beispiel wird schon seine Auseinandersetzung mit dem Erbe Philidors deutlich. Denn der vor der Schreckensherrschaft Robespierres nach London geflohene Philidor, der dort ein Jahr nach Petrows Geburt starb, hatte den bis dahin üblichen Springerzug Sf3 nach 1. e4 e5 verworfen und gemäß seiner Bauernlehre auf den Läuferzug nach c4 gesetzt, weil so dem Bf2, den Philidor gerne nach f4 entwickelte, keine Figur mehr im Wege steht. Aus diesem Grunde spielte Petrow zudem gern das Königsgambit, das er ebenfalls intensiv untersuchte und weiterentwickelte. Legendär war zudem seine Behandlung des Endspiels.Alexander Petrow gehört wie sein Freund Carl Friedrich Jänisch zu den „[URL="http://www.schattenblick.de/infopool/schach/schach/sph04926.html"]Gründungsvätern[/URL] der russischen Schachschule“. Doch während Jänisch durchaus auch ins Ausland reiste, um sich dort mit anderen europäischen Schachgrößen zu messen, zog es Petrow nicht in die Ferne (er lehnte z. B. im Gegensatz zu Jänisch, der nebenbei bemerkt auch nach Berlin reiste, um in einen fruchtbaren Gedankenaustausch mit den Plejaden zu treten, Stauntons Einladung zum ersten modernen internationalen Schachturnier in London 1851 ab, siehe KARL, S. 25), und er beschränkte sich neben dem Spiel im eigenen Land auf sein schachtheoretisches Schaffen. Adolf Anderssen brachte dies einmal - halb im Ernst und halb im Spaß - auf den Punkt, indem er [URL="http://www.schattenblick.de/infopool/schach/schach/sph05044.html"]äußerte[/URL]: „Petrow existiert gar nicht. Die Russen haben ihn erfunden, um auch einen Meister zu haben“. Doch auch im eigenen Land konnte Petrow schachlich wirken. Seine schachlichen Forschungen wurden schon genannt. Darüberhinaus war er [URL="http://www.encspb.ru/object/2804016729?lc=en"]1853[/URL] Gründer des ersten russischen Schachclubs in St. Petersburg, der Gesellschaft der Freunde des Schachspiels (Voland, S. 10), was von der Schachseite Schattenblick wie folgt in dessen Auswirkungen [URL="http://www.schattenblick.de/infopool/schach/schach/sph05044.html"]beschrieben[/URL] wurde: „Fortan trafen sich dort all die hoffnungsvollen Intelligenzen, Künstler und Avantgardisten und wetteiferten miteinander um das Wohlwollen der Schachmuse“. Nach Voland „formierte" sich „um 1850“ um Alexander Petrow mit Jänisch, Schumow und den Gebrüdern Urussow „eine ganze Schar kampfesstarker Meister“ (Voland,. S. 10), und mit Schachmatny listok folgte 1859 in St. Petersburg das erste russische Schachmagazin (ebd. S. 11). Als einer der Pioniere der russischen Schachschule stieß Alexander Petrow bei seinen Versuchen, das Schach zu popularisieren, dabei auf ähnliche Probleme wie Konrad Koch 1874, der in deutschen Schulen zusammen mit seinem Weggefährten August Hermann das Fußballspiel einführen wollte, und dem dabei reaktionäre Kreise, die das Fußballspiel als „undeutsch“ und zersetzend empfanden und es als „Fußlümmelei“ oder „Englische Krankheit“ verunglimpften, gewaltige Felsbrocken in den Weg legten. Konrad Koch flog aus seinem Gymnasium, und noch bis 1927 war das Fußballspiel zumindest in (ausgerechnet) bayrischen Schulen verboten (für Mädchen noch in die 70er Jahre hinein). Ähnlich reagierten die zaristischen Behörden. Zwar war in Rußland das Schach im Gegensatz zum Fußball in Deutschland kein neues Spiel, neu waren aber die ersten Ansätze einer breiten Schachöffentlichkeit, wiewohl diese von der Massenbasis nach der Oktoberrevolution noch weit entfernt waren. So wurde der Schachclub von St. Petersburg 1862 wieder geschlossen, zu den möglichen Gründen äußert sich Rolf Voland:[QUOTE]Die Popularität des Schachs und die Aktivitäten seiner Organisatoren mißfielen den reaktionären Kreisen des zaristischen Rußlands. Sie betrachteten die anziehende Kraft der Spieler und die dafür geschaffenen Organe als Mittel zur Verbreitung demokratischer Ansichten und Unterwanderung der Obrigkeitsordnung. Deshalb mußte die erste russische Schachgesellschaft ihre Tätigkeit im Jahre 1862 einstellen.[/QUOTE]Voland, S. 11Doch die Büchse der Pandora war geöffnet, und als später ein gewisser Michail Tschigorin, der sich des Erbes von Spielern wie Jänisch und Petrow bedienen konnte, in zwei Duellen gegen Wilhelm Steinitz um die Weltmeisterwürde rang, war Rußland endgültig vom Schachfieber erfaßt, und auch der russische Staat begann, stolz auf seine Schachgrößen zu sein. Doch wenn wir Petrow und Jänisch als Wegbereiter von Tschigorin auffassen, der wiederum bekanntermaßen nicht „nur“ wegen seiner Spielstärke, sondern auch wegen seines Stils nach seinem Tod als Patron der späteren Sowjetischen Schachschule wirken sollte, so interessiert die Fragestellung, welche konkreten Ideen ein Petrow für einen Tschigorin hinterlassen hatte, wenn wir diese Ideen grundlegender auffassen als eine Sammlung von Beiträgen zur Schachtheorie und Endspielkenntnissen. Der Beiname des Philidors des Nordens muß deswegen geklärt werden, damit deutlich wird, daß der viel später wirkende Petrow nicht bloß eine russische Kopie des Franzosen gewesen sei, sondern, wie schon erwähnt, eine evolutionäre Weiterentwicklung. Wagner von der Berliner Zeitung sagt lakonisch, Petrow habe den Beinamen wegen „seiner Stärke“ erhalten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Lipnitzky Petrow getreu der falschen Vorstellung eines russischen Philidors mit diesem in eine Reihe stellt, so als seien beide Zeitgenossen gewesen, und der sich zur Entwicklung des Schachs komprimiert äußert:[QUOTE]Schon vor Steinitz hatte es Meister gegeben, die wichtige positionelle Regeln einzeln ans Tageslicht brachten. So lieferten Philidor und Petrow beispielsweise eine Gesamtkonzeption für die Rolle der Bauern im Schach, während Murphy [Morphy - Kiffing] in seinen bemerkenswerten Partien die Bedeutung schnellstmöglicher Figurenentwicklung demonstrierte. Steinitz vereinte die Forschungsergebnisse der früheren Schachdenker und formulierte die Regeln des positionellen Schachs.[/QUOTE] Isaak Lipnitzky, Fragen des Modernen Schachs, Quality Chess 2008, S. 75Einmal davon abgesehen, daß hier mit Dr. Kurt G. Köhler ein Schachhistoriker protestieren würde, der an dieser Stelle einwenden würde, bereits Philidor habe die „Regeln des positionellen Schachs“ formuliert, während Wilhelm Steinitz diesen plagiiert und sich so mit fremden Federn geschmückt habe (eine Auseinandersetzung zu dessen These findet sich hier: [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.schachburg.de/threads/1861-Steinitz-als-Plagiator-von-Philidor-zur-These-von-Dr-Köhler". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://www.schachburg.de/threads/1861- ... %C3%B6hler" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.]), ist es gerade nicht so, daß Petrow, was die Rolle der Bauern angeht, zur selben Schlußfolgerung von Philidor gelangt sei. Richtig ist, daß Petrow den Wert der Bauernstruktur erkannte; diese Erkenntnis Philidors aber in ein rechtes Verhältnis gesetzt zu haben, macht ihn zu einem modernen Schachmeister. Überhaupt erinnert Petrows Auseinandersetzung mit dem Erbe Philidors, den die meisten anderen Schachgrößen der damaligen Zeit lieber stillschweigend übergingen, weil dieses ruhige Positionsspiel des Franzosen nicht das war, was sie unter „richtigem Schach“ verstanden, sehr stark an die späteren Ideen Wilhelm Steinitz´, womit Petrow diese Entwicklung hin zum modernen Schach bereits vorwegnahm. Und im Gegensatz zu dem bereits modern spielenden Howard Staunton hat Alexander Petrow dankenswerterweise seine Ideen in Schrift und Papier festgehalten. Rolf Voland kommt jedenfalls, was die Weiterentwicklung Philidors durch Petrow angeht, zu folgendem Schluß:[QUOTE]Obgleich Petrow die Lehre Philidors von der Bedeutung der Bauern hoch schätzte, wies er nach, daß der Franzose die Rolle des Bauern in der Schachpartie nicht selten übertrieb. Im Gegensatz zu den Meistern der italienischen Schule als auch Philidor, die den Angriff mehr als die Verteidigung schätzten, stellte er die Forderung, jeden Angriff gründlich vorzubereiten, nicht auf gegnerische Fehler zu setzen und erst dann zu entschlossenen Aktionen überzugehen, wenn die eigene Stellung gesichert ist. Seine Stärke bestand in der organischen Verbindung von Angriff und Verteidigung sowie in der für die damalige Zeit unübertroffenen Behandlung des Endspiels. [...][/QUOTE] Voland, S. 10Insofern dürfte Petrow im denselben Verhältnis zu Philidor stehen wie später Tschigorin zu Wilhelm Steinitz. Denn sowohl Petrow als auch Tschigorin haben sich bemüht, die im Kern zwar richtigen, aber oft überspitzt auftretenden Ideen des jeweils anderen von ihrer Scholastik zu befreien. Auch das macht Petrow neben Jänisch zu einem Wegbereiter von Tschigorin, auf dem wiederum Aljechin, und auf diesem noch später Kasparov aufbaute. Alexander Petrow pflegte über das Schach hinaus Freundschaft mit dem berühmten Autoren Alexander Puschkin. Petrow war nämlich literarisch interessiert. Er verfaßte mit Aus dem Leben von Schachspielern ein frühes Werk aus dem Bereich der Schachbelletristik. Und auch er schuf eine Unsterbliche Partie, die immer mit seinem Namen verknüpft sein wird, die Partie aus seiner Warschauer Zeit 1844 gegen Alexander Hoffmann:Partieanalysen: [url]http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1257910[/url] und [url]http://www.humboldt.de/pdf/leseprobe/9783869101637_LP.pdf[/url][Event "Warsaw m"][Site "Warsaw"][Date "1844.??.??"][EventDate "?"][Round "?"][Result "0-1"][White "F Alexander Hoffmann"][Black "Alexander Petrov"][ECO "C53"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "40"]1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bc4 Bc5 4.c3 Nf6 5.d4 exd4 6.e5 Ne4 7.Bd5Nxf2 8.Kxf2 dxc3+ 9.Kg3 cxb2 10.Bxb2 Ne7 11.Ng5 Nxd5 12.Nxf7O-O 13.Nxd8 Bf2+ 14.Kh3 d6+ 15.e6 Nf4+ 16.Kg4 Nxe6 17.Nxe6Bxe6+ 18.Kg5 Rf5+ 19.Kg4 h5+ 20.Kh3 Rf3# 0-1

Beitrag von Sanpelg

Wieder sehr gut geschrieben, über ein Thema von dem ich bisher nichts wusste :app2: