Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Beziehungsgeflecht zwischen dem Schachstil und dem Kapitalismus“

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Beitrag von Kiffing

Da Schach nicht losgelöst vom gesellschaftlichen und sich stetig verändernden Sein werden kann, wurden Können und Spielstil von eben diesem Sein natürlich immer mitgeprägt. Dies konnte sich ebenso in Trends manifestieren wie in Gegenbewegungen wie etwa die Schule der Hypermodernen, die eine Reaktion auf das moderne Schach gewesen ist.Wenn wir nun zu gewissen Trends zu sprechen kommen, dann hat kaum eine gesellschaftliche Strömung das Schach so geprägt wie der moderne Kapitalismus seit der industriellen Revolution. Dieser neue Trend markierte mit Steinitz´ neuen Regeln und der damit einhergehenden Verwissenschaftlichung des Schachs ebenso wie die Popularisierung der Ideen von Steinitz durch Tarrasch und andere ihren wirklichen Kulminationspunkt. Steinitz selbst, eigentlich ein typischer Wildromantiker, hat sein Schach erst durch seine Erfahrungen im puritanischen England und durch seine Interaktion mit der vor allem von Howard Staunton geprägten englischen Schachschule entwickelt. Nicht umsonst wurde in England selbst die romantische Epoche des Schachspiels als erstes beendet, denn England war das Mutterland der Industrialisierung und damit das Mutterland des sich entwickelnden Industriekapitals. Natürlich muß es nicht jedem auf dem ersten Blick plausibel erscheinen, was denn die von Steinitz ausgelöste internationale Entwicklung zum modernen Schach mit der Entstehung des Industriekapitals zu tun hat. Aber dafür ist dieser Thread ja da, um diese Frage so gut es eben geht zu klären.Die wichtigste Regel von Steinitz war ja die, daß sich gesundes Positionsspiel durch eine Akkumulierung von (kleinen) Vorteilen auszeichnet, bis sich dieser Vorteil in einen entscheidenden Schlag entladen kann. Dies ist dieselbe Vorgehensweise, die von einem Industriekapitalisten gefordert wird. Er muß Mehrwert akkumulieren, bis er dazu in der Lage sein kann, eine neue Investition zu tätigen, um seinen Besitz langfristig noch schneller zu vermehren. und er muß sein Unternehmen rational leiten und nicht idealistisch. Der Schachbuchautor Wolfram Runkel folgert:[QUOTE][Was zunächst] wie reine Schachstrategie aussah, war zunächst eine Verallgemeinerung aus dem Wirtschaftsleben. Das bedingungslose und zielgerichtete Erfolgsstreben auf der Basis nüchterner Zweckmäßigkeitserwägungen, unbelastet von jeder Verklärung und Illusion, wurde Steinitz in England und Amerika vor Augen geführt*[/QUOTE] • W. Runkel, Schach. Geschichte und Geschichten, Hamburg 1995, S. 169/ [URL="http://m.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-gruppenbild-mit-wachsfiguren-11310801.html"]Rezension[/URL] Was den Kapitalismus angeht, so kann man den Bogen auch weiter spannen als nur von dem Beginn der Industriellen Revolution bis in die heutige Tage. Denn den Kapitalismus als ökonomisches und gesellschaftliches Phänomen gab es schon Jahrhunderte früher. An die Stelle der modernen Industriekapitalisten kamen die Handelskapitalisten. Berühmte Handelshäuser wie die Fugger, die Welser, die Hanse, die von Frank Schätzing in „Tod und Teufel“ beschriebenen Overstolzen und die Medici etwa waren ebenso sehr erfolgreich, was das Vergrößern ihrer Handelsimperien anging. Sie mußten dabei aber anders vorgehen als die späteren Industriekapitalisten. Zu ihrem Werk gehörte das Risiko. Der Schachhistoriker [URL="http://books.google.de/books?id=iRk1WzH0WHEC&pg=PA51&lpg=PA51&dq=Schach+Spielstil+abh%C3%A4ngig+Zeit&source=bl&ots=Qp4jzlTlMb&sig=yvGoMLKGpftB1BWHmvTdZeqnw_8&hl=de#v=onepage&q=Schach%20Spielstil%20abh%C3%A4ngig%20Zeit&f=false"]Edmund Bruns[/URL] erläutert:[QUOTE]Der Wechsel vom Handelskapitalisten zum Industriekapitalisten läßt sich an seinem Geschäftsgebaren illustrieren. Dem großen Gewinn, den die Handelskapitalisten [...] verbuchen konnten, lag ein großes Risikokalkül zugrunde. Handelskapitalisten setzten ähnlich wie Roulettespieler alles auf eine Farbe. Sie rüsteten beispielsweise ein Schiff aus, welches Pelze aus Nowosibirsk erwerben und in den Heimathafen bringen sollte. Ging das Schiff unter oder wurde es von Piraten gekapert, war der Handelskapitalist ruiniert. Kam das Schiff sicher in den Heimathafen, hatte der Kaufmann einen enormen Gewinn zu verzeichnen. Dieser kapitalistische Geist mit dem Reiz des Risikos, dem Abenteuer und dem möglichen großen Profit, fand in allen Schichten viel Resonanz[/QUOTE]Insofern ist es kaum Zufall, daß diese berühmtesten Handelsfamilien gesellschaftlich eine hohe Wertschätzung genossen. Vor allem in der Zeit der Romantik, wo auch romantisch Schach gespielt wurde, wurden diese Handelsfamilien als Leitbilder besungen. Novalis etwa schreibt in seinen [URL="http://gutenberg.spiegel.de/buch/5232/1"]Aphorismen[/URL]: [QUOTE] Der edle Kaufmannsgeist, der echte Großhandel, hat nur im Mittelalter und besonders zur Zeit der deutschen Hanse geblüht. Die Medicis, die Fugger waren Kaufleute, wie sie sein sollten. Unsere Kaufleute im Ganzen, die größten nicht ausgenommen, sind nichts als Krämer.[/QUOTE]Auch die Modernen wurden nach ihrem zunehmend erfolgreichen Wirken auf dem Gebiet des Schachspiels von vielen als Krämer angesehen. Es ist kein Zufall, daß die Sowjetische Schachschule sich auch stilistisch vom "kapitalistischen Schach" absetzen wollte, stattdessen das Schöpfertum im Schach betonte und einen Michail Tschigorin als ihre Wurzel sah.

Beitrag von Kleinmeister

Das erscheint mir bei aller Bescheidenheit doch ziemlich frei fabuliert zu sein.Klar kann man zwei ähnlich laufende Entwicklungen verbinden, doch das macht meist keinen Sinn. Sonst kann ich dir nämlich beweisen, dass zumindest in Schweden die Kinder vom Storch gebracht werden.Hinzu kommt, dass das Positionsspiel nicht immer/nur daraus besteht kleine Vorteile anzuhäufen, dass die Schachregeln im Mittelalter* noch etwas anders geartet waren und dass Wirtschaftsprozesse grundsäzlich etwas mit Psychologie und Zufall zu tun haben. Schach dagegen ist ein Nullsummenspiel mit völliger Information für alle Beteiligten...*respektive frühe Neuzeit, ich weiß ;-)

Beitrag von Kiffing

Schach ist wahrscheinlich deswegen so attraktiv, weil es dem Menschen ein hohes Maß an Schöpfertum innerhalb begrenzter Regeln bietet. Und innerhalb dieser begrenzten Regeln findet sich alles, was menschliches Denken überhaupt ausmacht. Insofern ist der eigene Spielstil im Schach ja auch eine Ausdrucksform der eigenen Persönlichkeit. Lediglich das [URL="http://www.schachburg.de/threads/44-Der-Stil-als-Ausdrucksform-der-eigenen-Pers%C3%B6nlichkeit?highlight=Stil+Pers%F6nlichkeit"]Ausmaß[/URL] dieser Korrelation ist umstritten. Insofern erscheint es mir durchaus plausibel, daß gesellschaftliche Trends auch im Schachspiel ihren Abdruck hinterlassen, zumal bspw. der Industriekapitalismus ja für die Menschen immer konkreter faßbar wurde. Man muß nicht selber ein Wirtschaftler gewesen sein, um nach den Erfolgsrezepten der Wirtschaft Schach spielen zu können, den gesellschaftlichen Diskussionen über dieses Thema konnte sich niemand entziehen, sie gehörten für den Schachspieler als Teil der Gesellschaft zur Realität. Und daß mit dem Aufkommen des Industriekapitals Schach planbarer und rationaler wurde, Verwertbarkeit den in der Epoche der Romantik einflußreichen Motivationskonkurrenten: "Streben nach Schönheit" verdrängte und die Idee der kleinen Vorteile entwickelt wurde, vermag ich deswegen nicht als bloßen Zufall abzutun. Ich habe ja nie davon gesprochen, daß die gesellschaftlichen Trends im Schach eins zu eins umgesetzt werden. Aber einen Abdruck werden sie im Stile der Spieler schon hinterlassen haben. Umstritten ist hier meines Erachtens nur das Ausmaß dieses Abdrucks.