Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Kein Voluntarismus beim Schach!“

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Beitrag von Kiffing

Der Voluntarismus ist eine Lehre, nach der man mit seinem eigenen Willen etwas erzwingen kann. In der Realität ist so etwas freilich nur selten möglich, stößt man doch praktisch auf allzu viele Hindernisse. Und auch im Schach mag so etwas nur gegen Schwächere funktionieren, weil die gegnerischen Züge zu fehlerbehaftet sind, so daß sich der eigene Plan dann doch durchsetzen kann. In der Regel sollte sich aber beim Schach nicht nach den eigenen Wünschen, sondern nach der konkreten Stellung orientiert werden. Ein Königsangriff ist etwa nicht überall möglich, sondern nur wenn die Stellung es verlangt. Dafür weisen dann Indizien wie [URL="http://www.schachburg.de/threads/62-Die-Richtungsregel"]Richtungsregel[/URL], gegnerische Bauernstruktur bei eigener Rochadestellung (etwa Bg6 oder Bh6 bei schwarzer kleiner Rochade) und die Position der Figuren hin (hat man genügend eigene Figuren an der Königsfront?). Wenn die konkreten Bedingungen stimmen, sollte also daraus der Plan abgeleitet werden. Aus dem Nichts sollte aber kein Plan erzwungen werden, weil das gerade gegen stärkere Spieler, die Ungenauigkeiten vergleichsweise leicht ausnutzen kann, ganz schnell nach hinten losgehen kann. Wie denkt ihr darüber?

Beitrag von Kampfkeks

Im Prinzip stimme ich dir zu, Kiffing. Man kann die Figuren nicht nach Belieben umherschieben und nicht jeden x-beliebigen Plan zum Erfolg zwingen. Jeder Zug und jede Strategie muß sich an der konkreten Stellung und ihren (in)direkten Drohungen orientieren. Aber ich denke, daß es oftmals Wahlmöglichkeiten gibt:1) In der Eröffnungsphase gibt es einen gewissen Spielraum (z.B. wie reagiere ich auf 1.e4? Hier kann ich mich ja guten Gewissens zwischen e5, e6, c5 u.a. entscheiden. Und nach z.B. 1...e5 hat dann Weiß wiederum einigen Spielraum, z.B. f4, Sf3).2) Auch im Mittelspiel kann es mehrere Zugoptionen geben, z.B. wenn man eine oder sogar mehrere gegnerische Figuren gewonnen hat: Ich kann einfach weitere Figuren abtauschen und im Endspiel dann locker gewinnen, oder ich nutze den materiellen Vorteil aus, um den Gegner bereits im Mittelspiel in die Knie zu zwingen.3) Und aus ganz realistischer Sicht: Manchmal weiß man einfach nicht, was der beste von mehreren Zügen/Strategien ist (so geht´s mir "öfters" mal). >> Dieses Argument zählt natürlich nicht richtig, da es hier ja eher um eine abstrakte Betrachtung des Spiels an sich geht. Alles in allem stimme ich dir aber wie gesagt zu. Völlig freie Hand hat man nicht. Aber ist das nicht bei fast jedem Spiel so?LG keks

Beitrag von Kiffing

Vielleicht hätte ich das noch dazuschreiben müssen, aber mit dem eigenen Spiel, das sich an den Gegebenheiten der jeweiligen Stellung orientieren sollte, meinte ich nicht die Eröffnungsphase, wo es primär um einen erfolgreichen Aufbau der eigenen Truppen gehen sollte, sondern das Mittelspiel und das Endspiel. Das Mittelspiel und das Endspiel sind zwar auch eigene Spielabschnitte mit eigenen Charakteristiken, aber in diesem Punkt sind sie sich gar nicht mal so unähnlich. Das mit der Wahlfreiheit ist jedenfalls ein gutes Stichwort. In vielen Situationen hat man die Wahl zwischen mehreren Zügen/Ideen, und wofür man sich dann bevorzugt entscheidet, das ist dann das, was man den eigenen Stil nennt. Siegbert Tarrasch sprach mal davon, daß es in jeder Stellung nur einen besten Zug geben würde, und den habe man als Schachspieler auch zu finden. Die meisten sind sich aber heute darin einig, daß dieser Ansatz viel zu dogmatisch ist. Und auch Tarrasch war abhängig vom eigenen Geschmack und eigenen Vorlieben, auch wenn er sich das niemals eingestanden hätte, er hatte auch einen eigenen Stil. Ebenso übrigens wie Anatoli Karpov, der das auch empört von sich gewiesen hatte, einen eigenen Stil zu besitzen. Offenbar verhalten sich Stil und Spielstärke im Schach sehr ambivalent zueinander. Man meint, ein eigener Stil sei eine Schwäche, aber trotzdem besitzt ihn im Schach jeder. :D [QUOTE=Kampfkeks]Alles in allem stimme ich dir aber wie gesagt zu. Völlig freie Hand hat man nicht. Aber ist das nicht bei fast jedem Spiel so?[/QUOTE]Ja, schon. Aber vielleicht macht das ja auch den besonderen Reiz, diese Faszination für das Schachspiel aus, daß man in vielerlei Hinsicht den Lauf der Dinge selbst bestimmen kann. Natürlich immer in Abhängigkeit zu den Gegebenheiten der Stellung. Aber erstens kann man auch da bei Bedarf noch ein bißchen drehen, und zweitens gibt es auch den entgegengesetzten Ansatz, daß man sich im Schach nicht sosehr aufgrund allgemeiner Grundsätze beschränken sollte, sondern seinem Wagemut, seinem Schöpfertum und seiner Inspiration freien Lauf lassen sollte. Das ist dann der wildromantische Ansatz, der allerdings nicht allzu wissenschaftlich ist. Im Schach gibt es Spielphilosophien fast wie Sand am Meer. Das kleine Schachbrett war schon immer eine Projezierfläche für Theoretiker und Philosophen aller Art. ;)

Beitrag von Kampfkeks

Das Geniale am Schach ist, daß es - regeltechnisch - sehr einfach ist, aber gleichzeitig zu komplex ist, um in jeder Situation einen Gewinnweg zu erkennen: Man muß zwangsläufig abstrakt-strategisch vorausdenken, darf aber auch nicht die unmittelbaren Konsequenzen aus den Augen verlieren. Genau das macht für mich die Magie des Spiels aus: Die Mischung aus Strategie und Berechnung.Es ist letztlich ein geistiges Kräftemessen. Wie genau der Sieger gewonnen hat (oder der Verlierer verloren hat), spielt eigentlich keine Rolle. Klar ist aber, daß es nur mit Sinn und Verstand oder Kreativität geht, (Stichwort Voluntarismus) und nicht ins Blaue hinein.

Beitrag von sorim

Ganz sicher gibt und gab es Voluntarismus bei vielen guten Schachspielern.Diese spielen die vermeintlich schlechteren Züge um die Partie in die gewünschte Bahnen zu lenken.1.) Eigentlich wäre der Damentausch das beste, aber aus psychologischen Gründen geschieht dies nicht, um das Spiel zu komplizieren. 2.) Eigentlich wäre dieses Opfer unkorrekt, aber aus psychologischen Gründen geschieht dies trotzdem, und der Gegner ist nicht in der Lage am Brett die Widerlegung zu finden.

Beitrag von Maschendrahtzaun

[QUOTE=sorim;16624]Ganz sicher gibt und gab es Voluntarismus bei vielen guten Schachspielern.Diese spielen die vermeintlich schlechteren Züge um die Partie in die gewünschte Bahnen zu lenken.1.) Eigentlich wäre der Damentausch das beste, aber aus psychologischen Gründen geschieht dies nicht, um das Spiel zu komplizieren. 2.) Eigentlich wäre dieses Opfer unkorrekt, aber aus psychologischen Gründen geschieht dies trotzdem, und der Gegner ist nicht in der Lage am Brett die Widerlegung zu finden.[/QUOTE]Wenn man einen objektiv etwas schlechteren Zug spielt, um den Gegner dazu zu zwingen, die Stellung neu einzuschätzen oder die bisherigen Pläne über den Haufen zu werfen, ist das dann wirklich Voluntarismus?Oder nicht viel eher Kalkül, das mit dem Willen wenig zu tun hat? Es ist doch nicht festgeschrieben, dass der von der Engine gekürte stärkste Zug auch tatsächlich der beste in einer konkreten Turnierpartiesituation ist.

Beitrag von sorim

Selbst gegen Engines haben viele Schachspieler das Prinzip des Voluntarismus gebraucht.Die Position ja nicht kompliziert machen, sondern sich geschickt ins Endspiel retten. Heute ist das Gegnteil der Fall, jetzt zwingen die Engines uns ihren Willen auf, wenn die Engines behaupten, dass diese Eröffnung gut ist, dann wird sich diese auch bei den Schachspielern durchsetzten.

Beitrag von Kampfkeks

[QUOTE=sorim;16647]Selbst gegen Engines haben viele Schachspieler das Prinzip des Voluntarismus gebraucht.Die Position ja nicht kompliziert machen, sondern sich geschickt ins Endspiel retten. [/QUOTE]Das ist in meinen Augen kein Voluntarismus: Wer die Stellung nicht kompliziert machen "darf" und sich ins Endspiel retten "muß" - weil Angst vor der Engine - , der handelt doch nicht völlig frei? :denknach:

Beitrag von sorim

Stimmt der Mensch handelt nicht frei, weil der Computer ihm mit seinem eigenen Willen etwas erzwingen kann.