Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Der Vorteil der Damenflügelmajorität nur ein Mythos?“

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Beitrag von Kiffing

Es steht im Kurs, teilweise bis zu Steinitzens Zeiten anscheinend oder nur scheinbar bewährte Richtlinien im Schach in ihrer Bedeutung zu relativieren oder sogar gänzlich in Frage zu stellen. John Watsons Geheimnisse der modernen Schachstrategie und sein Nachfolger Schachstrategie in Aktion sind gewissermaßen ein Manifest jener postmoderner Regelstürmerei, über die wir im Forum bspw. in einem [Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://www.schachburg.de/threads/181-Der-Watson". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "Extrathread zu Watson" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.] gesprochen haben. John Nunn hat sich in Das Verständnis des Mittelspiels im Schach positiv auf Watson bezogen. Für den englischen Großmeister, der gleichzeitig ein Mathegenie ist, gebe es im Schach „viele Mythen über das Mittelspiel“ (John Nunn, Das Verständnis des Mittelspiels im Schach, GAMBIT-Verlag 2012, S. 9). Da es John Nunn in diesem Buch im Gegensatz zu Watson beim Schreiben seiner beiden erwähnten Schachbücher nicht primär um schachphilosophische Diskussionen, sondern um das eher praktische Ziel der Steigerung der Spielstärke des Käufers geht, konzentriert sich Nunn nur auf einen „Mythos“ des Mittelspiels. Dieser hat es freilich in sich, handelt es sich bei diesen „Mythos“ um nichts weniger als um den Vorteil der Bauernmehrheit am Damenflügel, von dem viele Schachspieler, die diese Regel auch irgendwann vermittelt bekommen haben, überzeugt sind. Schließlich klingt die Herleitung dieser Regel logisch: die Majorität am Damenflügel kann leichter vor allem für eine Freibauerbildung in Bewegung gesetzt werden als eine Majorität am Königsflügel, weil eine Aktivierung einer Majorität am Königsflügel wesentlich öfter den eigenen König schwächen würde und dann eher kontraproduktiv sei. John Nunn bestreitet diese Herleitung. Da es grundsätzlich immer auf den Einzelfall bzw. auf die konkrete Stellung ankomme, gebe es bei dieser allgemeinen Regel zu viele Ausnahmen und Gegenbeispiele, als daß diese zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden könne. Nunn verweist darauf, daß das Anstürmen einer Majorität am Königsflügel mit der Struktur ...f5-f4-f3 und ...Sf8-g6 dem eigenen König oft eine gewisse Sicherheit gebe. Zudem sei ein Vorpreschen einer Majorität am Königsflügel für den Gegner bei typischen Rochadestellungen (beide Gegner haben kurz rochiert) wesentlich gefährlicher als am Damenflügel. Außerdem habe diese Regelung selbst im Mittelspiel bei einer „sehr vereinfachten Stellung“ (Nunn S. 14) ohnehin keinen Bestand mehr. Hier sei eine Majorität einfach eine Majorität. Wie schon erwähnt, dürfte diese Argumentation für viele Schachfreunde eine Überraschung sein, weil sie von schachlichen Autoritäten ganz anderes gehört haben. Auch der im Internet aktive Schachlehrer Yury Markushin lehrt in dieser Frage traditionell. Markushin bettet die Majorität am Damenflügel in eines von [URL="http://www.thechessworld.com/learn-chess/2-middle-game/654-25-middlegame-concepts-every-chess-player-must-know"]25 Konzepten[/URL], die jeder Schachspieler wissen müsse. In dem Artikel zur [URL="http://www.thechessworld.com/learn-chess/2-middle-game/552-the-queenside-pawn-majority-5-rules-to-know"]Bauernmehrheit am Damenflügel[/URL], der übrigens von wGM Raluca Sgircea und IM Renier Castellanos geschrieben wurde, und dort die Bauernmehrheit am Damenflügel als drittes der 25 Konzepte vorgestellt wird, nehmen sich die Autoren vor zu begründen, warum die Regel, die wir „eine Millionen mal“ gehört hätten, daß „eine Bauernmajorität am Damenflügel gewöhnlich vorzuziehen sei, weil dies einen signifikanten strategischen Vorteil gebe“, ihre Gültigkeit habe, und wie wir diesen Vorteil am besten umsetzen. Interessant ist also, die von Nunn als Mythos „entlarvte“ Regel wird nicht hinterfragt, nicht einmal zur Diskussion gestellt, sondern, wie bei den bereits erwähnten Schachautoritäten, als wahr vorausgesetzt. Folgen wir den beiden Titelträgern, so geben diese fünf Handlungsanweisungen (ebd.), wie mit der Bauernmehrheit am Damenflügel zu verfahren sei, wobei die Autoren natürlich zu Recht betonen, daß damit die Ideen in solchen Stellungen noch nicht ausgeschöpft seien. Als erster Punkt wird das Problem mit der eigenen Königssicherheit in Stellungen erwähnt, in denen beide Gegner kurz rochiert haben, wenn ein Spieler am Königsflügel seine Majorität in Bewegung setzt. In solchen Stellungen könne eine Aktivität am Damenflügel gut zur Ablenkung des Gegners benutzt werden. Zudem habe die Praxis gezeigt, daß der Vorteil des Besitzes der Majorität am Damenflügel durch die Beherrschung der d-Linie verstärkt wird. Dies solle mit einer besseren Mobilität und Figurenanordnung kombiniert werden. Im Endspiel sollte die Bildung eines entfernten Freibauern ein Ziel sein, und schließlich repräsentiere die Kombination der Damenflügelmehrheit mit einem Läuferpaar einen bedeutenden Vorteil.Dies sind sicherlich auch unabhängig davon, wie man als Schachspieler zu der aufgeworfenen Frage steht, ob die Mehrheit am Damenflügel nun tendenziell einen Vorteil darstelle, nützliche Ratschläge, von denen man als Schachspieler profitieren kann. Geht es aber darum, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, so könnte ich mir durchaus vorstellen, daß John Watson in einer Replik nun seinerseits mögliche Vorzüge der Majorität am Königsflügel aufzählen und damit die Argumentation Sgirceas und Castellanos´ neutralisieren würde. Im Prinzip hat er das in seinem erwähnten Lehrbuch schon gemacht. Deswegen die Frage ans Plenum, neigt ihr eher zur klassischen Lehre des Vorteils der Damenflügelmajorität, oder stellt ihr diese Bewertung als Vorteil wie John Nunn in Frage?

Beitrag von Pantau

Dass müsste sich doch statistisch (Chessbase) überprüfen lassen, oder?

Beitrag von Kiffing

[QUOTE=Pantau;24709]Dass müsste sich doch statistisch (Chessbase) überprüfen lassen, oder?[/QUOTE]Ein guter Vorschlag. Wer traut sich das zu? Wer ist schachlich und technisch gleichermaßen fit für diese Aufgabe?Übrigens ist mir gegen ein Argument John Nunns, das dieser gegen den Vorteil der Damenflügelmajorität vorgebracht hatte, etwas eingefallen:[QUOTE]Außerdem habe diese Regelung selbst im Mittelspiel bei einer „sehr vereinfachten Stellung“ (Nunn S. 14) ohnehin keinen Bestand mehr. Hier sei eine Majorität einfach eine Majorität.[/QUOTE]Hier meine ich, daß in den meisten Stellungen, und das sind die in Stellungen, in denen beide Spieler kurz rochiert haben, diese sehr einfachen oder endspielmäßigen Strukturen sehr wohl für die Seite mit der Majorität am Damenflügel sprechen, weil der König dann weit weg von der Freibauernbildung am Damenflügel wird, so daß diese Bildung dann erst recht gefährlich ist.