Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Jose Raul Capablanca - das leuchtende Symbol der Goldenen Zwanziger“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/iczrL4w.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/iczrL4w.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Wie Garri Kasparov meint, waren die Weltmeister immer Kinder und Symbole ihrer Zeit bzw. ihrer geistigen Strömung gewesen. Laskers psychologischer Stil erklärt sich laut Kasparov etwa durch den ungeheuren Einfluß von Laskers Zeitgenossen Freud und Einstein, wobei die Beziehung zu Letzterem dadurch hergestellt wird, daß die Relativität das alte teleologische Weltbild mindestens ergänzte. „Gegen Janowski wäre der Zug ein Fehler, gegen Tarrasch wäre er aber gut“, meinte Lasker mal bei einer Analyse. Seine Züge richteten sich nach dem Gegner, so daß der zweite Weltmeister der Schachgeschichte also Einsteins Relativitätstheorie in seine Spielauffassung einfließen ließ. Wir alle wissen, daß Lasker ein vielseitiger Mensch war und sich immer sehr für die geistigen Strömungen interessiert hat. Neben seinen vielseitigen Interessen, war Lasker auch ein [URL="http://www.zeitschriftschach.de/buecher/Emanuel_Lasker_und_Philosophie.pdf"]Philosoph[/URL], und so spielte er auch.Wenn wir uns nun Laskers Nachfolger zuwenden, dem unsterblichen Jose Raul Capablanca, so gilt das über Lasker gesagte unbedingt auch für ihn. Und gerade zwischen den beiden Epochen, der Epoche Laskers und der Epoche Capablancas, hatte sich welthistorisch viel bewegt. Als der Kubaner 1921 Weltmeister wurde, war der Erste Weltkrieg gerade vorüber und machte den vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Krisen, aber auch den geistigen Sinnkrisen in dieser Zeit Platz. Obwohl das [URL="http://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Drei%C3%9Figj%C3%A4hriger_Krieg"]Inferno[/URL] gerade erst begonnen hatte, gab es unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für viele Menschen erst einmal eine Atempause. Das Alte zählte nicht mehr oder hatte zumindest seine moralische Autorität eingebüßt, neue avantgardistische Strömungen, die auch im Schach unter dem Namen Hypermoderne florierten, traten in das Weltgeschehen ein und suchten nach neuen Ansätzen. Da das Bildungsbürgertum als Stütze der Herrschenden diskreditiert war, verloren die Menschen die Lust am Lesen und nahmen begierig das neue Unterhaltungsangebot aus Übersee auf, das sich in der Etablierung von Kinos und einer expandierenden Filmindustrie ausdrückte. Und in den Städten entfaltete sich auf einmal ein nie gekanntes Nachtleben mit provokanten lasziven Einfärbungen. Statt schwerer geistiger Kost, war nun leichte Unterhaltung angesagt, und niemand sonst als der lebenslustige und weltgewandte Jose Raul Capablanca, konnte die Sehnsüchte der Menschen besser erfüllen. Er schien ein deus ex machina gewesen zu sein, ein Heros, der, von Gott gerufen, vom Himmel stieg, nachdem seine Zeit gekommen war, um den Menschen zu dienen.Garri Kasparov etwa schreibt über den dritten Weltmeister der Schachgeschichte:[QUOTE]Capablancas Auftreten und sein Äußeres entsprachen der Feinheit und Eleganz seines Spiels. Er war ein fröhlicher und geselliger Mensch, hatte leuchtende Augen und leicht gebräunte Haut. Er trug stets einen schwarzen Smoking mit einer aus Elfenbein geschnitzten Chrysantheme am Revers.„Im Privatleben hat Capablanca wenig mit dem klassischen Schachspieler gemein,“ schrieb Spielmann. „Neben dem Schachspiel sieht er seine Berufung vor allem in der Tätigkeit als Politiker und Diplomat. Ferner ist er sehr sportbegeistert und interessiert sich vor allem für Tennis. Capablanca ist ein Mann von Welt, ohne die typischen ´mondänen Angewohnheiten´. Er raucht nicht, trinkt nicht und legt größten Wert auf Hygiene. Er vermittelt den Eindruck, Schach sei für ihn lediglich eine Form der Zerstreuung...“[/QUOTE]Garri Kasparov, Meine großen Vorkämpfer, Band 2, Edition Olms, 2006, S. 34Capablanca war wie ein typischer galanter Filmheld der damaligen Zeit, und auch seine Frauengeschichten kamen wie aus dem Drehbuch einer typischen Komödie: 1929 in Karlsbad fielen die Zuschauer aus allen Wolken, als Capablanca nach einem für ihn vollkommen untypischen Patzer schon im 9. (!) Zug eine Figur einstellte (gegen Sämisch). Den Grund dafür erläuterte später Capablanca. Er erklärte, daß vor seinem 9. Zug seine Ehefrau Gloria überraschend im Turniersaal erschienen war. Sie hatte die lange Reise von Havanna nach Deutschland auf sich genommen, weil sie schon ahnte, daß ihr mondäner Gatte ihr nicht treu war. Und tatsächlich hatte Capablanca in Karlsbad mal wieder eine Affäre mit einer anderen Frau. Na, da war die böse Überraschung für Capablanca doch verständlich! Capablanca war ein absolutes Wunderkind im Schach, dessen Begabung wohl nur mit Philidor, Paul Morphy und Samuel Reshevsky vergleichbar ist. Wie es so vielen geht, denen alles zugeflogen kommt, fehlt dann auch irgendwann einmal die Bereitschaft, wirklich hart an sich zu arbeiten (wen sollte ein Capablanca schon fürchten?), und spätestens nach seinem WM-Triumph von 1921 gegen Emanuel Lasker schien Capablanca sich phasenweise zu sehr [URL="http://www.schachburg.de/threads/577-Der-gerupfte-Weltmeister"]auf seinen Lorbeeren auszuruhen[/URL]. Treppner/Pfleger etwa haben Fluch und Segen seiner einzigartigen Begabung folgendermaßen herausgearbeitet:[QUOTE]Zweifellos lebte er von seinem Naturtalent, sprich einer unglaublich schnellen und präzisen Auffassung, so daß selbst sein Erzrivale Aljechin später zugab, nie habe er bei einem anderen Spieler so etwas angetroffen. „Was andere in einem Monat nicht entdeckten, sah er auf den ersten Blick“, meint Fine. Dabei verließ sich Capa mit nachtwandlerischer Sicherheit völlig auf seine Intution; theoretische Begründungen für seine Züge gab er, wenn überhaupt, erst nachträglich. „Ich weiß nicht, warum ich diesen Zug mache, aber ich weiß, daß er gut ist“, sagte er selbst. Am besten trifft es wohl Reti, der Schach als „zweite Muttersprache“ Capablancas bezeichnete; es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, ohne daß er sich damit noch bewußt auseinanderzusetzen brauchte.[/QUOTE]Pfleger/Treppner, Brett vorm Kopf, Leben und Züge der Schachweltmeister, Beck´sche Reihe, 1994, S. 107Seine schon von Kasparov herausgestellte fehlende Bereitschaft, sich auf komplizierte Varianten einzulassen, wurde ihm 1927 gegen Alexander Aljechin zum Verhängnis. Aber auch danach fand er nie wieder zur alten Form zurück, wofür Garri Kasparov allerdings noch einen anderen Grund ausmacht:[QUOTE]Meiner Ansicht nach lassen sich die schlechten Resultate Capablancas vielmehr auf die schnelle Entwicklung des Schachs zurückführen. Nach der Hypermodernen Schule bildete sich eine neue Richtung heraus, die sogenannte „Sowjetische Schachschule“. Mit ihr setzte sich eine vollständig neue, dynamische Art Schach zu spielen durch. Capablanca mobilisierte zwar all seine Kräfte, um den Anschluß an die Weltspitze nicht zu verlieren, doch fiel ihm das zunehmend schwerer. Bereits in den 20er Jahren zeichneten sich einige Probleme in seinem Spiel ab, die sich in den 30er Jahren dann verstärkten[/QUOTE] Kasparov, S. 141Wie dem auch sei, Capablanca hat in der Schachgeschichte fraglos seine Spuren hinterlassen, er zählt zu den sogenannten „großen Weltmeistern“, er hat zahlreiche klassische Perlen geschaffen, eine Unmenge an positionellen Ideen gespielt, die auch heute noch zum Rüstzeug für die lernenden Schachspieler gehören, und die Entwicklung des Schachs zweifelsfrei beflügelt. Auf dem Olymp des Schachs hat er seinen festen Platz. Aber seine Tendenz zur Vereinfachung leitete auch endgültig die Angst vor dem Remistod ein (diese war ursprünglich entstanden aus der Befürchtung, wenn alle nur noch so spielen wie nach den Regeln Tarraschs und Steinitz´, wäre das Remis als logisches Resultat unausweichlich), die erst die Hypermodernen, die eindrucksvoll bewiesen, daß die Potentiale des Königlichen Spiels noch lange nicht erschöpft waren, und natürlich auch die Urgewalt Aljechin verbannen konnten. Heute ist diese Befürchtung obsolet geworden, weil der heute praktizierte Stil dynamisch ist. Das Schach ist viel komplexer als die Zeitgenossen damals geahnt hatten.

Beitrag von Frank Mayer

Eine ausgezeichnete Studie! Meine Hochachtung und mein Beifall, zumal es sich um mein Idol handelt.Tausend Dank!Frank