Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Howard Staunton und sein Schachturnier“

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Beitrag von Kiffing

[IMG][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/YwuVgs6.png". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/YwuVgs6.png" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/IMG]Die Franzosen haben kulturell sehr viel zum Schach beigetragen. Sowohl ihr überdimensionaler Beitrag zur Aufklärung kam in der Person [URL="http://www.schachburg.de/threads/950-Der-kurze-Fr%C3%BChling-von-Philidor"]Philidors[/URL] dem Schachspiel zugute, dessen Ideen von Alexander Petrow, der dadurch den Beinamen: „Russischer Philidor“ erhielt, aufgegriffen wurden, als auch die „Napoleonische Reaktion“, die sich durch einen Stil auszeichnete, der die großen Schlachten Napoleons auf das Schachbrett übertragen wollte, mit aller Furchtlosigkeit, die sich nur der Schachspieler leisten kann, da sein Risiko auf eine sportliche Niederlage begrenzt ist. Vertreter dieser kulturellen Strömung waren große französische Spieler wie Deschapelles oder la Bourdonnais, die noch einige Jahre nach der Niederlage Frankreichs 1815 bei Waterloo den verblassenden Ruhm ihres großen Feldherren auf das Schachbrett übertrugen. Doch jede Epoche findet einmal ihr Ende, und so war die Zeit reif für einen Vertreter der sich als erstes Land industrialisierenden Weltmacht England, der die Erfolgsmethoden des englischen [URL="http://www.schachburg.de/threads/921-Beziehungsgeflecht-zwischen-dem-Schachstil-und-dem-Kapitalismus"]Frühkapitalismus[/URL] in Form von Empirie und Rationalismus mit [URL="http://www.schachburg.de/threads/926-Schach-im-puritanischen-England"]puritanischer[/URL] Nüchternheit kombinierte. Dabei fällt auf, daß die englische Weltmacht erst vergleichsweise spät auffallend in die Schachwelt eindrang. England trat erst dann als schachliche Großmacht in Erscheinung, als Nationen wie Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich oder Rußland das Schachspiel bereits jahrhundertelang geprägt hatten. Dafür verantwortlich war der englische Puritanismus aufgrund seiner strengen Sittenlehre, unter dem das Schachspiel litt. Der Schachhistoriker Jacques Hannak führt aus:[QUOTE] Trotz wachsender Popularität des Schachs im Spätmittelalter, war es natürlich ein Spiel der Könige, Bischöfe und Ritter geblieben. Die revolutionären Volksbewegungen übertrugen ihre antifeufale Bilderstürmerei mitunter auch aufs Schachspiel. Zu Savanarolos Zeiten brannten auf dem Scheiterhaufen des Luxus in Florenz zugleich Schachutensilien. Ähnlich ablehnend, regierte die revolutionäre Sekte der Puritaner in der englischen Revolution auf den in ihren Augen überflüssigen Tand des Adels und des Hofes. Die Pioniere des englischen Kapitalismus opferten ihr Geld zudem nicht für Luxusartikel. Sie hatten keine Zeit für profitbeeinträchtigende Nebensächlichkeiten. Jede Münze und jede Minute galt ihrem Geschäft. Für Schach war da wenig Platz. [...] Auch in der allgemeinen Kunstentwicklung war das gleiche wie in der Schachkunst festzustellen. Barock und Rokoko hatten ihren Ursprung in Italien bzw. in Frankreich und wurden in England geradezu ignoriert. Die schon erwähnten Vorsichtsmaßnahmen, die Londoner Schachfreunde bei ihren geheimen Zusammenkünften im Old Slaughter´s Coffee-House für notwendig hielten, waren also nicht unbegründet. Sie wollten nicht in den Ruf kommen, Nichtstuer und Zeitverschwender zu sein, die eine Adelsgepflogenheit fortsetzten. Erst als die puritanischen Lebensregeln an Einfluß verloren, weil sich genügend Kapital angehäuft hatte, so daß eine großzügigere Lebensgestaltung möglich wurde, wagten die Schachfreunde öffentlich ihrem Vergnügen nachzugehen[/QUOTE]Ebd.Zu bedenken ist also hierbei, daß es nicht nur die puritanische Sittenstrenge war, die ein Entfalten der Schachkunst in England erschwerte, sondern auch die Tatsache, daß der Puritanismus seit den Zeiten Cromwells eine revolutionäre Religion war, die das Schachspiel als dekadenten Aristokratenzeitvertreib verurteilte, und der sich damit stark vom staatstragenden und obrigkeitshörigen Lutheranismus in Deutschland unterschied.Allerdings war der Stil von Howard Staunton, also jenem Vertreter dieses Landes, dem die Aufgabe zukam, die Veränderungen in seinem Heimatland zu repräsentieren, beileibe nicht so trocken, als wie er immer dargestellt wird. Staunton, der erst mit 20 Jahren zum Schach gekommen war, also zu einem Zeitpunkt, wo heutzutage andere schon Weltmeister oder weltbeste Spieler gewesen sind, war ein akribisch arbeitender Eröffnungstheoretiker und in diesem Sinne ein Vorläufer von Botwinnik. Er ist der Erfinder der Englischen Partie (1. c4) sowie des Staunton-Gambits (1. d4 f5 2. e4), verstand viel vom Positionsspiel, konnte aber auf dieser Grundlage auch wilde Angriffe reiten, wenn er den Gegner bereits überspielt hatte. Nicht umsonst bezeichnete ihn Robert Fischer, der den streitbaren Engländer gar in seine Liste der zehn besten Schachspieler aller Zeiten aufnahm, als „Vorläufer von Steinitz und damit des modernen Schachs“ (Treppner, Pfleger, Brett vorm Kopf, Leben und Züge der Schachweltmeister, Beck´sche Verlagsbuchhandlung München 1994, S. 26). Sicherlich hatte Philidor bereits diverse Richtlinien für positionelles Spiel herausgearbeitet. Obwohl er Jahrzehntelang der beste Spieler der Welt war, der seine Gegner trotz Vorgaben von Figuren oder Zügen fast nach Belieben besiegen konnte, sind sich Schachexperten heute einig, daß dessen Spiel unter einer gewissen Dogmatik und Überbetonung der Rollen der Bauern litt. Erst ein Howard Staunton brachte die positionellen Ideen von Philidor in ein rechtes Verhältnis, und in diesem Sinne schien mir dieser pragmatische Spieler auch wesentlich weniger dogmatisch gewesen sein, als Wilhelm Steinitz, auf den ähnliche Überspitzungen zutrafen wie auf Philidor. Denjenigen jedenfalls, die das Vorurteil des trockenen und langweiligen Stils von Howard Staunton unreflektiert übernehmen, sei ein Studium seines Zweikampfes mit Saint Amant 1843 in Paris empfohlen, wo Howard Staunton nach stark behandelter Eröffnungsphase großartige Ideen umsetzte und mit kraftvollen Königsangriffen und Kombinationen glänzen konnte. Besonders zu Beginn des Kampfes sah der Franzose ganz schlecht aus und wirkte allenfalls wie ein schwächerer Sparringspartner. Staunton spielte mit ihm Katz und Maus. Als Demonstration die 2. Matchpartie:[Event "Staunton-Saint Amant"][Site "Paris FRA"][Date "1843.11.16"][EventDate "1843.??.??"][Round "2"][Result "1-0"][White "Howard Staunton"][Black "Saint Amant"][ECO "A43"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "63"]1.d4 c5 2.d5 f5 3.Nf3 d6 4.Nc3 Nf6 5.Bg5 e5 6.e4 a6 7.exf5Bxf5 8.Nh4 Bc8 9.Bd3 g6 10.O-O Be7 11.f4 c4 12.Bxc4 exf413.Rxf4 Nbd7 14.Qd4 Ne5 15.Re1 Nfd7 16.Bxe7 Qxe7 17.Ne4 Rf818.Rxf8+ Qxf8 19.Nxd6+ Kd8 20.Rxe5 Qxd6 21.Re3 Kc7 22.Bb3 a523.Nf3 Nf6 24.c4 b6 25.Ne5 a4 26.Bc2 a3 27.Nf7 Qc5 28.Qf4+ Kb729.b4 Nh5 30.Nd8+ Ka6 31.bxc5 Nxf4 32.Rxa3# 1-0Den Wettkampf, der übrigens eine Revanche für seine knappe 2,5-3,5-Niederlage im heimischen London gewesen war, gewann Howard Staunton klar mit 13:8. Er hatte mit 7,5-0,5 einen Blitzstart hingelegt und damit den Kampf bereits frühzeitig entschieden. Insofern dürfte es nicht verwundern, daß er es danach ruhiger angehen ließ.Garri Kasparov hat in seiner Würdigung für diesen Spieler in Band 1 seiner Vorkämpfer-Reihe auf eine „Urform“ des Petrosjanschen Qualitätsopfers aufmerksam gemacht, das Staunton in der 21. und letzten Matchpartie anbrachte:[FEN=1]5rk1/1b3pp1/1q1b1n1p/1p1p4/1PrP4/1Q1BB2P/N4PP1/2R1R2K b - - 0 31[/FEN]Hier spielte Staunton 31. ...Dc6! Nimmt Weiß das Qualitätsopfer an, so hat Staunton dafür zahlreiche positionelle Vorteile in Form eines gedeckten Freibauern, eines starken Feldes d5 für seinen Springer und eine offene Läuferdiagonale, die mit der Möglichkeit einer gegen den König gerichteten Batterie einhergeht.Nach seinem überzeugenden Sieg gegen Saint Amant bezeichnete sich Howard Staunton als weltbester Spieler, und er untermauerte seinen Anspruch durch Siege in Zweikämpfen gegen Harrwitz und Horwitz. Allerdings war dies als Grundlage für seinen Anspruch eher mau.Howard Staunton war ein Intellektueller, der rastlos die Sache des Schachs vorantrieb, dabei aber auch noch einem Beruf als Shakespeare-Forscher nachging, und in diesem Bereich Arbeiten herausgegeben hatte, die international anerkannt waren. Im Schach war er nach la Bourdonnais und seinem Pasadena erst der zweite Spieler, der mit seiner Chess Player´s Chronicle eine Schachzeitschrift herausgab. Gleichzeitig schrieb er regelmäßig Kolumnen in der Schachspalte für die Illustrated London News und trat auch als Autor von Schachbüchern in Erscheinung. Sein Name ist eng mit den „Staunton-Figuren“ verbunden. Damit wird der heute übliche international normierte und damit einheitliche Figurensatz gemeint. Staunton war allerdings nicht der Erfinder dieses Figurensatzes, sein Name wurde lediglich aus Publicity-Gründen verwendet. Mit seinem Namen aber zurecht verbunden ist die Austragung des ersten internationalen Schachturniers zur Weltausstellung in London 1851, das einen Meilenstein in der Schachgeschichte darstellt. Denn vor 1851 waren im modernen Schach Zweikämpfe die ausschließliche Form der Schachwettkämpfe (im alten Arabien waren Turniere allerdings schon ungleich länger bekannt). Howard Staunton trat als Hauptorganisator dieses ersten internationalen Schachturniers in Erscheinung und war unermüdlich in der Organisation tätig. Aufgrund der Doppelbelastung als Spieler und Organisator sollte es nicht verwundern, daß Staunton seinen hohen Ansprüchen nicht genügen konnte und im Halbfinale gegen den späteren Turniersieger Adolf Anderssen ausschied, der fortan als weltbester Spieler galt. Staunton schob sein Ausscheiden auf gesundheitliche Gründe. Für Staunton persönlich markierte dieses Turnier das Ende seines Zenits. Sein Stern war fortan am Sinken, und er konzentrierte sich mehr und mehr auf seine Shakespeare-Forschungen. Da er selbst nicht mehr an sich glaubte und fürchtete zu verlieren, wich er 1859 dem neuen Stern am Firmament, Paul Morphy, aus, der ihn aufgrund seines legendären Rufs bei seiner Europatournee herausgefordert hatte. Für das Weltschach bedeutete das Turnier in London 1851 allerdings sehr viel. Die Idee mit den Turnierformaten begann sich durchzusetzen, Spieler und Organisatoren wurden zum ersten Mal mit turnierpraktischen und –theoretischen Problemen konfrontiert und begannen, dafür nach Lösungen zu suchen. Bspw. wurde in dem Turnier noch ohne Bedenkzeitlimit gespielt, so daß sich die Partien mitunter sehr in die Länge ziehen konnten, was auch als psychologische Waffe von besonders ausdauernden Spielernaturen ausgenutzt werden konnte. Howard Staunton selbst gab z. B. die Spiele um Platz 3 gegen Williams auf, weil dieser so langsam zog, daß eine einzige Partie nach Aussage von Staunton 20 Stunden lang dauern konnte. Die Niederlage konnte Staunton ohnehin verschmerzen, denn er war angetreten, um das Turnier zu gewinnen und nicht, um später Plazierungsspiele zu bestreiten. Ein anderes turnierpraktisches Problem stellten die Remispartien dar. Zuvor war es üblich, unentschieden ausgegangene Partien nicht zu werten, so daß z. B. der Kampf zwischen Staunton und Saint Amant in Paris strenggenommen nicht 13:8, sondern 11:6 für Staunton ausging. Auch wenn damals viel seltener die Partien Remis ausgingen (in London 1851 waren es in 85 Partien nur [URL="http://glareanverlag.wordpress.com/tag/howard-staunton/"]sieben[/URL] Partien), so konnte die Wiederholung von Unentschieden ausgegangenen Partien, vor allem, wenn sich nach wie vor kein Spieler gegenüber den anderen durchsetzen kann, den Turnierverlauf stark in die Länge ziehen. Erst beim Schachturnier in Dundee 1867 wurde eine Entscheidung getroffen, die sich bis heute durchgesetzt hat: für ein Remis gab es einfach für jeden Spieler einen halben Punkt. Ansonsten wurde vom Turnierformat im KO-System schnell Abstand genommen. Von Formaten wie dem Welt-Pokal einmal abgesehen, sind seitdem Rundenturniere, wo jeder gegen jeden spielt, in der Weltspitze gängige Praxis. Auch die Farbverteilung war in London 1851 noch nicht auf dem aktuellen Stand und wurde schnell reformiert. In London 1851 wurde zwar das Anzugsrecht ausgelost, nicht aber die Farbe. Insofern konnte auch der Schwarzspieler mit dem Spiel beginnen, was bei der Übertragung der Partien immer wieder auf Probleme stieß (siehe ebd.).Den Meilensteincharakter von London 1851 wesentlich tiefer beleuchtet der Schachhistoriker Edmund Bruns, der das Turnier in Beziehung setzt zu den soziokulturellen Trends in der damaligen Zeit:[QUOTE]Das Londoner Turnier aus dem Jahre 1851 während der Weltausstellung bildete unzweifelhaft eine Wende im Schachspiel. Luis de Lucenas hatte gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Regeln für das Schachspiel ausdifferenziert, und Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man begonnen, dies auch für die äußeren Spielbedingungen zu tun. Zum ersten Mal kam es bei einem Turnier nun zu einer Trennung zwischen dem Schachspiel aus Vergnügen und dem Spiel als Arbeit, Beruf und Einkommensquelle, welches der Öffentlichkeit präsentiert wurde.Gleichzeitig mit dem stattfindenden Turnier sollte von einem ersten internationalen Kongreß ein Reglement verfaßt werden. Alle Fragen zu Regeln, Turnierfiguren, Notationssystem und Zeitbeschränkung sollten europaweit kodifiziert werden. Wie sonst in der modernen Industriegesellschaft galt es, „supranationale Normen festzuschreiben, ein Fundament von Geboten und Verboten zu legen, von denen sich regionale Abweichungen nicht als Besonderheiten, sondern als Übertretung einer existierenden internationalen Norm definieren ließen“ (Strouhal, acht x acht, S. 88)[/QUOTE]Edmund Bruns, Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, LIT-Verlag 2003, S. 35Insofern repräsentiert Howard Staunton die Übergangszeit vom Idealismus zum Rationalismus im Schach. Doch das Chess Divan, das er betreute, und das nach Harold C. Schonberg für die Engänder das war, was das Cafe de la Regence für die Franzosen gewesen ist (vgl. Schonberg, S. 46), sollte noch lange den Glanz des idealistischen Zeitalters im Schach wachhalten. Zur Einstimmung auf die sagenhafte Clubatmosphäre sei hier ein Auszug aus der [URL="http://howardstaunton.com/stauntoncity.shtml"]Beschreibung[/URL] von der Howard Staunton Society mitgegeben: [QUOTE] …On entering the Divan [the visitor] was surprised to find long rows of sofas, the smell of tobacco, many chessboards and shelves full of books. A civil old waiter brought him his coffee, together with Blackwood and some newspapers, and enquired whether he would like a game of chess, which was declined; when lo! a musical clock was set going, which could be heard in every part of the large room. [/QUOTE]Die Engländer halten ihren Landsmann noch heute mit ihren Staunton-Memorial-Turnieren in Ehren. Und mag der knorrige Engländer auch nicht sympathisch gewesen sein, viel geleistet hat er allemal.

Beitrag von Kiffing

Wie schon erwähnt war das erste internationale Schachturnier in Europa eng mit dem Namen Howard Staunton verbunden. In diesem Beitrag möchte ich auf interessante Begebenheiten hinweisen rund um Staunton und sein Schachturnier:Adolf Anderssen hatte den deutschen Schachzirkeln nach dem Turnier in einem Brief ausführlich berichtet, wie er das Turnier so erlebt habe. Als nationaler Held, und als solcher wurde er in diesen Zeiten zweifellos gefeiert (s. u.), waren die Deutschen natürlich höchst interessiert an seinen Erfahrungen, zumal ein Trip nach London damals keine Spazierfahrt war. Anderssen war z. B. mit einem Dampfboot nach London gereist.Doch lassen wir Anderssen selbst zu Wort kommen. Es ist interessant, wie er auf den renommierten, ursprünglich aus Deutschland stammenden englischen Schachspieler Daniel Harrwitz traf, der von diesem Turnier gar nichts wissen wollte. Der Grund war, daß Harrwitz im Londoner Schachclub war, der mit Staunton eine Rivalität pflegte. Nach der Bitte, ihn in den Londoner Schachclub einzuführen, traf der junge Anderssen erstmals auf den legendären Hauptorganisator des Turniers Howard Staunton:[QUOTE]In einem Winkelgässchen mieteten wir uns, jeder für 6 Schillinge die Woche, ein Kämmerchen im dritten Stock, dinierten darauf für 6 Schillinge in einer Restauration neben dem Divan und kehrten zuletzt dahin zurück. Ein Kellner zeigte uns Herrn Szen, Mayet redete ihn an; Szen konnte sich jedoch seiner nicht erinnern. Er hatte soeben seine Partie mit einem englischen Spieler beendet, empfing seinen Schilling und entfernte sich, kehrte aber gleich darauf mit Herrn Williams, einem bekannten englischen Meister zurück, und wir wurden eingeladen, die Herren in den Georges-Club zu begleiten. Dort endlich fanden wir Herrn Horwitz. Während wir mit ihm sprachen, wurden wir einem Herrn von großer Statur mit freundlichen blauen Augen, einer hohen Stirn, einem kleinen, zusammengekniffenen Munde vorgestellt, der uns freundlich die Hand drückte, ohne daß wir, in die Unterhaltung mit Horwitz vertieft, viel Notiz von ihm nahmen, bis ich endlich einen der Anwesenden ihn Mr. Staunton anreden hörte. „Staunton“ rief ich aus und gab Mayet einen kräftigen Stoß; der englische Schachheros aber fühlte sich durch meine Überraschung so geschmeichelt, daß er mir nochmals und mit vieler Wärme die Hand drückte. [/QUOTE]Egbert Meissenburg, Das internationale Schachturnier zu London 1851, Elberfelder SG, S. 18 (Das Buch ist von der Elberfelder SG 1851 herausgebracht worden, ein Traditionsverein, der sich im Strudel der Begeisterung, die dieses Turnier und der Turniersieg des Landsmanns Anderssen in Deutschland hervorbrachte, noch im selben Jahr gegründet hatte)Von der sprichwörtlichen englischen Höflichkeit sollte aber im Turnier selbst beim Gastgeber wenig übrig bleiben. Nach seinem überraschenden Ausscheiden gegen Anderssen in der 3. Ausscheidungsrunde, dem Halbfinale, äußerte er sich bekanntlich, auch in dem von ihm redigierten Turnierbuch, wiederholt sehr gehässig gegenüber seinem Gegner, während er selbst seine Niederlagen auf seine schwache Gesundheit schob. Schonberg merkte hierzu süffisant an, daß Stauntons Beschreibungen seiner schwachen Gesundheit während des Londoner Turniers selbst eine Statue zu Tränen rühren könnten. Außerdem empörte Staunton sich ostentativ über Anderssens Deal mit Szen, daß der Sieger des Turniers dem anderen ein Drittel des Preisgeldes zuteil werden läßt. Dieses Verhalten wurde allerorten als schlechtes Verlieren gebrandmarkt und sorgte für viel Mißklang. In einem 1852 erschienen Buch nahm der deutsche Verlag von Veit und Comp. Stauntons Verhalten zum Anlaß, um „Falsches zu berichtigen und Zweifelhaftes aufzuklären“. (Ebd. S. 27) Das Schachbuch wendete sich sehr ausführlich dem anstößigen Verhalten des Gastgebers zu. Welche Wirkungen dieses Verhalten in der damaligen Zeit hatte, davon mag ein Abschnitt aus dieser Anklage des Buches zeugen:[QUOTE]Daß zur Vervollständigung des Triumphes, den unser bescheidender Landsmann über den stolzen Meister an der Themse errungen, nur noch das Schauspiel der Bestürzung und des Unmutes seines siegesgewissen Gegners gefehlt haben, - mögen andere finden. Wir wünschten, daß Staunton sich besser beherrscht, sich würdiger benommen und ernstlich bemüht hätte, großsinnig das Unabweisliche anzuerkennen, statt die Geringschätzung eines ebenbürtigen Talents schauzutragen, oder den Stachel der Niederlage geschärft und vergiftet gegen den Besieger zu wenden[/QUOTE]Ebd. Dem Sieger Anderssen jedenfalls, dem von Meissenburg bescheinigt wurde, einen ähnlichen Boom in Deutschland erzeugt zu haben wie Larsen in Dänemark oder Euwe in den Niederlanden, wurde in Deutschland tatsächlich höchste Ehrung zuteil. Sein Sieg wurde in heroisch bebilderten Gedichten besungen, und zwar als nationale Heldentat und Ausdruck der Überlegenheit der deutschen Kultur. Das sollte uns aber nicht wundern. Schon Schonberg hatte auf die heute in Schachkreisen beständig übersehene Tatsache aufmerksam gemacht, daß schon Paul Morphy in seinem Heimatland für eine ähnliche Schachbegeisterung gesorgt habe wie ein Jahrhundert später Robert Fischer. Es war das lange Zeitalter des Nationalismus, von dem wirklich jede große „Kulturnation“ vollständig beseelt war. Von dieser Heldenverehrung zeugt dieses Gedicht aus Meissenburgs Buch. Unzählige andere Gedichte sind in Deutschland um diese Zeit zu Ehren Anderssens entstanden:[QUOTE]Ein Hoch läßt heut uns uns´rem Meister bringenDen Englands Küsten kürzlich bei sich sah´n,Laßt hell und laut den vollen Becher klingen,Er tat, was Keiner auch bis jetzt getan.Vor deutschen Kräften sanken Englands Helden,Vor Anderssen wich jede Prahlerei,Und selbst die Illustrated mußt´ es melden,Daß Anderssen der Held des Tages seiIm Schachturnier hat glänzend er bewiesen,Wie Deutschland stets das Land der Geister sei,Wie seinem Schoß entstammten Geisterriesen,Wie Wissenschaft und Kunst hier blühen frei.Er zeigte uns, wie an der Themse StrandeDer Fürst des Schachspiels zu besiegen sei,Und daß auch uns´rem deutschen VaterlandeDie Krone und der Lorbeer eigen sei.So möge unser Wunsch sich denn bewähren,Daß wir den meister stets hier bei uns seh´n,Den wir mit Recht als König nun erklären,Und ungern wir von uns jetzt scheiden seh´n.Und möge er im Leben stets erringen,Was freudig nur ein Menschenleben heut,Und unsre Gläser heller jetzt erklingen,Da „Adolph Anderssen“ die Losung heut.[/QUOTE]Zum Schluß möchte ich euch die 4. Matchpartie zwischen Anderssen und Staunton aus dem Halbfinale zeigen. Anderssen führte gegen Staunton mit 3:0 und stand auch in der vierten Partie auf Gewinn. Man erwartete ein rasches Ende der Partie zugunsten Anderssens nach dem selbstverständlichen 29. ...Lxf6 30. Dxe6+ Kh7, wonach Weiß nichts mehr hat und der schwarze Angriff durchschlägt. Doch Anderssen zog was anderes, und sofort war Matt in einem Zug... Zum Glück kam Anderssen nach diesem Schock nicht vom rechten Wege ab, gewann gleich die nächste Partie gegen Staunton und setzte sich so immer noch klar mit 4:1 gegen den Engländer durch. Aber ein einzügiges Matt zu übersehen, kann offenbar auch den stärksten Spielern passieren. ;)[Event "London"][Site "London ENG"][Date "1851.??.??"][EventDate "1851.??.??"][Round "3.4"][Result "1-0"][White "Howard Staunton"][Black "Adolf Anderssen"][ECO "C53"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "59"]1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bc4 Bc5 4. c3 Nf6 5. d4 exd4 6. e5 d57. Bb5 Ne4 8. cxd4 Bb4+ 9. Nbd2 O-O 10. O-O Bg4 11. Bxc6 bxc612. Qc2 Bxf3 13. Nxf3 Rb8 14. Qxc6 Rb6 15. Qc2 f5 16. a3 Be717. b4 f4 18. Ne1 Rh6 19. f3 Ng5 20. Nd3 Ne6 21. Bb2 Qe822. Rac1 Qh5 23. h3 Rg6 24. Nf2 Rg3 25. Kh2 Rf5 26. Qc6 Qg627. Rg1 Rfg5 28. Ng4 h5 29. Nf6+ Kf7 30. Qe8# 1-0