Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Schach-WM 1981 in Meran - von der Tragödie zur Farce“

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Beitrag von Kiffing

[img][Hier befand sich ein Link auf die Seite "https://i.imgur.com/NwXUlpj.jpg". Der Link wurde vom Benutzer mit dem Titel "https://i.imgur.com/NwXUlpj.jpg" versehen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist es möglicherweise erforderlich, diesen Hinweis beizubehalten, da manche Benutzer die Quelle ihrer Zitate von anderen Internetseiten so gekennzeichnet haben. Dieser Hinweis wurde automatisch an Stelle des früheren Links platziert. Falls der Link unangemessen oder ohnehin unerreichbar geworden ist, kann die im Impressum genannte Adresse mit einer Bitte um Entfernung kontaktiert werden.][/img]Nachdem die Schach-WM 1978 in Baguio von beiden Lagern mit [URL="http://www.schachburg.de/threads/1613-Schach-WM-1978-Baguio-Duell-des-Hasses"]Feuer und Schwert[/URL] ausgefochten wurde und Anatoli Karpov mit Ach und Krach, aber auch, wie Kritiker meinen, mit Hilfe des schon damals „nicht unparteiischen und mit der sowjetischen Seite verbündeten“ Turnier-Organisators Florencio Campomanes als Sieger die Ziellinie überquerte, wurde es fast als Wunder gesehen, daß der alternde Löwe Viktor Kortschnoi sich drei Jahre später erneut für die Weltmeisterschaft gegen Anatoli Karpov qualifizierte. Daran nicht unschuldig war der deutsche Star, der doch nie ein Star sein wollte, Dr. Robert Hübner, der, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, im Qualifikationszyklus gegen Kortschnoi den „Bock seines Lebens“ schoß. Viktor Kortschnoi hatte in den Kandidatenkämpfen bereits seine früheren Landsleute Tigran Petrosjan und Lew Polugajewski mit 5,5-3,5 und 7,5-6,5 aus dem Wege geräumt. Im Kandidatenfinale war er auf Hübner getroffen und lag bereits mit 3,5-2,5 zurück. In der 7. Partie stand Kortschnoi gegen Hübner leicht schlechter, und es ging nur noch darum, ob Hübner seinen Vorteil verwerten konnte, als ganz Schachdeutschland [URL="http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1082592"]geschockt[/URL] wurde:[FEN=1]8/6p1/7p/1k5P/3KPrn1/8/6R1/B7 w - - 0 63[/FEN]In dieser Stellung zog Hübner 63. Kd5?? und lief damit in eine Springergabel, die ihm einen ganzen Turm kostete. Nach 63. ...Se3+ 64. Ke5 greift Hübner zwar gleichzeitig Kortschnois Turm an. Aber dieser wird nach 64. ...Sxg2 einfach gedeckt.Diesen Schock konnte Hübner in dem Wettkampf nicht mehr verwinden. Er spielte schwach weiter und brach hinterher das Kandidatenfinale ab. Damit war für die sowjetische Seite das Problem Kortschnoi wieder akut, die Frage war, ob Viktor Kortschnoi es diesmal schaffen könne, Anatoli Karpov zu bezwingen. Natürlich arbeitete die Zeit gegen den alternden Löwen. Kortschnoi war bereits 50 Jahre alt, 20 Jahre älter als Karpov, und seine vier letzten Turniere, die Kortschnoi nicht gewinnen konnte, hatten alles andere als für Zuversicht gesorgt. Nach Treppner und Pfleger trat er „offenbar überspielt“ (Pfleger/Treppner, Brett vorm Kopf, Leben und Züge der Schachweltmeister, Beck´sche Reihe München 1994, S. 261) zur WM an. Doch war bekannt, daß für Viktor Kortschnoi andere Gesetze gelten, was die Rolle des Alterns bezogen auf die eigene Spielstärke angeht. Ihm wurde durchaus zugetraut, trotz seiner Rolle als Außenseiter noch einmal alle Kräfte gegen Karpov für diese schwere Prüfung zu mobilisieren. Gerade Kortschnoi gehört wie vormals Fischer zu den Spielertypen, die den Haß auf den Gegner, den Wunsch, diesen vernichten zu wollen, brauchen, um sich in die nötige Stimmung für einen Kampf zu bringen und damit alle Reserven aus sich herauszuholen. Jeder wußte, daß dies aller Wahrscheinlichkeit nach Kortschnois letzte Chance war, das sowjetische Bollwerk zu Fall zu bringen. Und er würde in diesem Kampf auf Leben und Tod alles dafür tun.Die Entwicklungen seit Baguio 1978 hatten den Haß Kortschnois auf die Sowjetunion und auf Karpov nicht abklingen lassen. Noch immer bestand das Turnierboykott der Sowjetunion gegen Kortschnoi, so daß nach wie vor keine sowjetischen Spieler an Turnieren teilnehmen durften, an denen Kortschnoi mitwirkt. Und noch immer wurde seine Familie in der Sowjetunion zurückgehalten, sein Sohn Igor saß wegen Wehrdienstverweigerung nach wie vor im Gefängnis. Für diese Situation machte Kortschnoi Karpov mitverantwortlich, da, wie er sagte, Karpov bei seinen Beziehungen zur Sowjetmacht nur ein Wort zu sagen bräuchte, und seine Familie wäre frei und könne ihm ins Exil folgen. Der damalige FIDE-Präsident, der Isländer Fridrik Olafsson, hatte sich für Kortschnoi eingesetzt und die ursprünglich auf den 19. September angesetzte Schach-WM um einen Monat verschoben, um den Sowjets Gelegenheit zu geben, Kortschnois festsitzender Familie die Ausreise zu erlauben. Die Sowjetunion reagierte äußerst verärgert, es stand sogar die Gefahr einer Spaltung der FIDE im Raum, und nach langem Gerangel wurde die Schach-WM schließlich auf den 1. Oktober terminiert – Kortschnois Familie war noch immer in der Sowjetunion. Die Situation von Kortschnois Familie während der Schach-WM wurde in dem bekannten Schach-Film Gefährliche Züge dramaturgisch verarbeitet. In dem teils realen, aber auch teils fiktiven Film, in dem Elemente der Schach-Weltmeisterschaften 1978 und 1981 verarbeitet wurden, hatten sich die sowjetischen Hintermänner die Bosheit einfallen lassen, die Frau des Dissidenten Pavius Fromm während der Weltmeisterschaft gegen ihren Weltmeister Akiva Liebskind freizulassen, um dem Herausforderer „das Herz zu brechen“. Hintergrund war, daß dessen Frau in eine der berüchtigten psychiatrischen Anstalten des Landes gesteckt wurde, wo sie, entsprechend bearbeitet, zu einem psychischen Wrack geworden war. Diese Szene zeigt sehr gut auf, was der Sowjetunion in diesen Zeiten, im Kalten Krieg, zugetraut wurde, mit seinem Mißtrauen gegen die Sowjetunion, die Kritiker gerne als Paranoia beurteilen, stand Viktor Kortschnoi wie vormals Robert Fischer nicht allein.Mit seinem politischen Buch Antischach von 1980 hatte Viktor Kortschnoi unmittelbar vor der WM die Stimmung noch einmal aufgeheizt. In dem Buch fanden sich selbstverständlich wüste Angriffe auf die Sowjetunion und Anatoli Karpov. Seinem Vorbild entsprechend nutzte auch später ein weiterer Dissident, Garri Kasparov, die Rolle des Mediums Buch vor einem ähnlichen Wettkampf. Vor der Schach-WM 1987 in Sevilla, nicht zufällig ebenfalls gegen Karpov, hatte Kasparov mit seiner Politische[n] Partie ein ähnliches gegen die Rolle der Sowjetunion im Schach gerichtetes Werk verfaßt. Prophetisch mutet schon fast eine Aussage Kortschnois aus seinem Antischach an. Dort heißt es:[QUOTE]Solange keine Politiker neuen Typs auftauchen, die gleichermaßen aggressiv, kompromißlos und bis zur Selbstaufopferung für ihre Sache einstehen, läßt sich der Kommunismus nicht aufhalten[/QUOTE]Zitiert nach Pfleger, Borik, Schach-WM 1981, Falken-Verlag 1981, S. 123Ein solcher Politiker fand sich wenig später tatsächlich. Die Rede ist von Ronald Reagen, der bereits ein Jahr nach Veröffentlichung von Kortschnois Werk die Präsidentschaft der USA übernahm...Natürlich wurden in der Sowjetunion ebenfalls Werke veröffentlicht, die sich gegen die Person Kortschnois richteten und zum Zwecke dessen Diffamierung verfaßt worden waren. Trotzdem stand diese Schach-WM 1981 eher im Schatten von Baguio drei Jahre zuvor. Das lag zum einen am neuen Turnierort: Baguio war, typisch für eine Dritte-Welt-Metropole, stickig, heiß, voll von Menschen, stressig und laut. Meran dagegen war das genaue Gegenteil. Auch wenn der sowjetischen Delegation in ihrem Hotel „häßliche kleine Krebse – Skorpione!“ (Garri Kasparov, Meine großen Vorkämpfer, Band 7, Edition Olms 2007, S. 376) zu schaffen machten, war Meran, ein italienischer Kurort in Südtirol, malerisch, anheimelnd und von streßfreier Atmosphäre, und als es mitten im Wettkampf die Festlichkeiten zum traditionellen Meraner Fest der Weinlese mit Umzügen, Musik, Spielen und natürlich Wein gab, kam sogar richtige Urlaubsstimmung auf. Anatoli Karpov erinnerte sich:[QUOTE]An das WM-Match in Meran (Herbst 1981) hat Karpov im Gegensatz zu Baguio „sehr angenehme Erinnerungen: die herrliche Landschaft, die unübertroffene Organisation des Wettkampfes [...][/QUOTE]Ebd. S. 375Zum anderen verzichtete die sowjetische Seite diesmal weitgehend auf psychologische Kriegsführung, ließ z. B. den berüchtigten Dr. Suchar zuhause und erhob auch keinen Einspruch dagegen, daß der Herausforderer erneut von Amanda Marga unterstützt wurde. Sie akzeptierte schließlich sogar, daß Kortschnoi endgültig unter der Fahne seines neuen Heimatlandes, der Schweiz, spielen durfte. Der Südtiroler Schachverband [URL="http://www.schachbund.it/berichte/news132006_wm1981.htm"]resümiert[/URL] rückblickend:[QUOTE] Alles blieb ruhig. Das, vorauf viele gewartet haben, blieb aus. Seit dem Duell 1972 zwischen Spasski und Fischer, war das nicht so. Der beiderseitige Wille zur Einsicht und Kompromissbereitschaft stach hervor. Das Duell konnte beginnen. Auf der einen Seite der linientreue Karpov, der mit "still, schlank, klein, feingliedrig, humorlos und introvertiert" bezeichnet wurde, auf der anderen Seite der in den Westen geflüchtete Kortschnoi, der als "laut, groß, grob, humorvoll und extrovertiert" galt, aber 1956 bei der Sowjet-Meisterschaft einem Gegner das Brett auf den Kopf warf und 1972 einen Großmeisterkollegen und früheren Weltmeister ohrfeigte. [/QUOTE]Die sowjetische Delegation konzentrierte sich auf legale Operationen, um Karpov so professionell wie möglich zu unterstützen und scheute dabei weder Kosten noch Aufwand. So sorgten bspw. die zehn riesigen Container, die das sowjetische Lager nach Meran mitbrachte, für Aufsehen:[QUOTE]Das Publikum war verwundert über die zehn gewaltigen Container, die das Karpov-Team zum Wettkampf mitbrachte. Photos dieser Kisten erschienen in italienischen Zeitungen unter aufreißerischen Schlagzeilen wie „Die russische Geheimwaffe?“ Aber Delegationsleiter Baturinski erklärte, daß man sich noch sehr gut an die mehr als drei Monate erinnere, die man in Baguio verbracht hatte: „Wer weiß, wie lange es dieses Mal dauern wird? Man muß mit allem versorgt sein: Eröffnungskarteien, Schachbücher, theoretisches Material, die Ergebnisse von vielen Tagen Vorbereitung... Dieser Teil der Ladung kann wirklich als „Geheimwaffe“ angesehen werden. Außerdem werden Medikamente, Lebensmittel und Sportausrüstung benötigt. Dabei ist viel zusammengekommen, eine ganze Tonne von Gütern.“[/QUOTE]Kasparov, S. 166Historische Ereignisse sind beim ersten Mal eine Tragödie, wiederholen sie sich, können sie zur Farce werden. Insgesamt war Meran in vielerlei Hinsicht eine abgeschwächte Version von Baguio, und als die sowjetische Delegation und Viktor Kortschnoi jeweils befürchteten, bestrahlt zu werden, und Kortschnoi wieder mit seiner spiegelnden Brille antrat, beunruhigten sie damit niemanden mehr. Interessant ist allerdings, daß Kortschnoi einen Stecker der polnischen unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc trug, die sich zu dieser Zeit einen harten Kampf gegen das polnische Regime lieferte. Im Prinzip war es eher Kortschnoi, der offen aus der Rolle fiel. Das lag sicherlich zu einem guten Teil in seinem fürchterlichen Einstand begründet. Die Bedingungen in Meran waren dieselben wie drei Jahre zuvor in Baguio, d. h. den Wettkampf gewinnt derjenige, der sechs Siege schafft. Als „Viktor der Schreckliche“ nach vier Partien bereits mit 0:3 hinten lag, so daß Karpov bereits die Hälfte der Siegesanforderungen geschafft hatte, wurde Kortschnoi zunehmend gereizt und ausfällig. Nach Pfleger und Borik hatte Kortschnoi Karpov mehrmals als „Wurm“ beschimpft, „wobei dieser Ausdruck im Russischen wohl eher in die Richtung von ´obrigkeitshöriger Speichellecker´ geht“ (Pfleger, Borik, S. 154) und wurde dafür von der Jury, bestehend aus Gligoric, Kinzel und Prins in der 12. Partie offiziell verwarnt. Sollte es zu einer Wiederholung solcher Ausfälle kommen, wurde Kortschnoi eine Geldstrafe in Höhe von 15.000 Schweizer Franken angedroht (ebd. S. 154). Laut der tschechoslowakischen Zeitung Rude Pravo soll Karpov allein in der 9. und 10. Partie fünfmal die Hand gehoben haben, um Hauptschiedsrichter Paul Klein an den Spieltisch zu bitten:[QUOTE]Kleins Kommentar dazu: ´Während des Spiels beschimpfte Kortschnoi ständig Karpov auf Russisch, er beleidigte ihn und sein Land. Wir mußten Kortschnoi mehrere Male ermahnen.´[/QUOTE]Kasparov, S. 381Was den WM-Verlauf angeht, so kam es nicht zum Blitzsieg Karpovs, wie nach seinem schnellen 3:0 schon, je nach Standpunkt, erhofft oder befürchtet wurde. Viktor Kortschnoi gelang zweimal der Anschluß zum 1:3 und 2:4 und konnte damit auf sowjetischer Seite für eine gewisse Nervosität sorgen, daß sich Baguio 1978 wiederholen würde. Doch wie gesagt verlief alles, gegenseitige Ausbrüche und Tendenzen des Wettkampfes von Baguio 1978, in abgeschwächter Form, Garri Kasparov sprach von einem „blassen Schatten von letzten Match“ (ebd.). Der Endstand der Weltmeisterschaft war mit einem 6:2 wesentlich eindeutiger als das 6:5 von vor drei Jahren, die Länge der WM wesentlich kürzer (18 statt 32 Partien), und insofern hatte sich Anatoli Karpov in der Weltspitze fest etabliert. Viktor Kortschnoi mußte sich endgültig von seinem Traum verabschieden, spielte aber noch viele Jahre Spitzenschach und erhielt für seinen Ehrgeiz und seinen Kampfgeist bis ins höchste Alter hinein viel Respekt und Bewunderung. Noch vor einem Monat hatte der inzwischen an den Rollstuhl gefesselte 83jährige in Leipzig einen [URL="http://www.lvz-online.de/sport/regionalsport/kortschnoi-gegen-uhlmann-die-analyse-der-beiden-leipziger-partien/r-regionalsport-a-232915.html"]Schaukampf[/URL] gegen Wolfgang Uhlmann (79) bestritten und diesen mit 2:0 gewonnen. Der FIDE-Präsident Fridrik Olafsson, welcher der sowjetischen Seite noch Paroli geboten hatte, wurde nur ein Jahr später auf dem FIDE-Kongreß 1982 abgewählt. Mit Unterstützung des osteuropäischen Blocks wurde Florencio Campomanes dessen Nachfolger.Anatoli Karpov war indes spielerisch weiterhin gereift. Er spielte wesentlich abgerundeter und aktiver als noch vor drei Jahren. Hier sein [URL="http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1068264"]Sieg[/URL] zum 4:1 in der 9. Partie nach völliger Beherrschung der d-Linie:[Event "Wch30-Merano ;MAINB"][Site "Wch30-Merano ;MAINB"][Date "1981.10.24"][EventDate "?"][Round "9"][Result "0-1"][White "Viktor Korchnoi"][Black "Anatoly Karpov"][ECO "D55"][WhiteElo "?"][BlackElo "?"][PlyCount "86"]1. c4 e6 2. Nc3 d5 3. d4 Be7 4. Nf3 Nf6 5. Bg5 h6 6. Bh4 O-O7. Rc1 dxc4 8. e3 c5 9. Bxc4 cxd4 10. exd4 Nc6 11. O-O Nh512. Bxe7 Nxe7 13. Bb3 Nf6 14. Ne5 Bd7 15. Qe2 Rc8 16. Ne4 Nxe417. Qxe4 Bc6 18. Nxc6 Rxc6 19. Rc3 Qd6 20. g3 Rd8 21. Rd1 Rb622. Qe1 Qd7 23. Rcd3 Rd6 24. Qe4 Qc6 25. Qf4 Nd5 26. Qd2 Qb627. Bxd5 Rxd5 28. Rb3 Qc6 29. Qc3 Qd7 30. f4 b6 31. Rb4 b532. a4 bxa4 33. Qa3 a5 34. Rxa4 Qb5 35. Rd2 e5 36. fxe5 Rxe537. Qa1 Qe8 38. dxe5 Rxd2 39. Rxa5 Qc6 40. Ra8+ Kh7 41. Qb1+g6 42. Qf1 Qc5+ 43. Kh1 Qd5+ 0-1