Schachburg-Archiv: Benutzerthema „Die vier großen vormodernen Schachkämpfe“

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Beitrag von Kiffing

Es hat sich so ergeben, daß dem auch schachhistorisch interessierten Schachspieler vor allem die offiziellen Weltmeisterschaftskämpfe seit 1886 mehr oder weniger geläufig sind. Doch ist dieser Ansatz nur reduziert, denn schon vor den offiziellen Weltmeisterschaften gab es packende Duelle um den Anspruch, weltbester Schachspieler zu sein, und die Übergänge sind fließend. So war das WM-Match von 1886 zwischen Wilhelm Steinitz und Johannes Zukertort von 1886 im Prinzip ebenfalls eine Übereinkunft zwischen den zwei Spielern, die als die besten Spieler der Welt galten, die damit an die Traditionen anderer berühmter Zweikämpfe anknüpften. Der einzige Unterschied war lediglich der, daß beide in ihren Vertrag den Passus setzten, daß der Sieger dieses Duells den offiziellen Titel Champion of the world erhalten sollte. Bis 1948, als die FIDE die Austragung der WM-Kämpfe übernahm, hatten auch die offiziellen Weltmeisterschaften noch vielfach den Charakter der berühmten Zweikämpfe vor 1886 angenommen. Die Spieler organisierten ihre Duelle selbständig, es lag an dem Weltmeister, seinen Herausforderer zu bestimmen bzw. dessen Herausforderung anzunehmen, und nicht jeder dieser frühen Weltmeister verhielt sich dabei so kulant wie Wilhelm Steinitz, der seinen Titel oft verteidigte, und auch immer gegen die als stärksten angesehenen Gegner. Die Dominanz von [URL="http://www.schachburg.de/threads/950-Der-kurze-Fr%C3%BChling-von-Philidor"]Francois Philidor[/URL] im 18. Jahrhundert war so groß, daß Philidor leider dazu neigte, seine damaligen Gegner mit Vorgaben hinwegzufegen, was der Schachentwicklung, die sich vor allem auf die Partien der Schach-Größen stützt, sicher nicht sehr dienlich war. Philidor hatte keinen, der ihm ebenbürtig war, er war seiner Zeit weit voraus und damit Paul Morphy vergleichbar. Erst nach Philidors Tod ergab es sich, daß mehrere Spieler den Anspruch erhoben, der beste Spieler der Welt zu sein, und so organisierten sie Matches, um sich selbst, ihrem Gegner, und natürlich der Schachwelt zu beweisen, daß sie es sind. Es ist dabei interessant, daß die beiden Erbfeinde und weltpolitischen Konkurrenten, England und Frankreich, auch auf dem Schachbrett verbissen miteinander um die Hegemonie rangen. 1834 kam es dabei in London, in dem europäischen [URL="http://www.schachburg.de/threads/756-Als-die-Zeit-keine-Rolle-spielte"]Urquell der Schachweltmeisterschaften[/URL], zu einem langen Duell zwischen Louis Charles de La Bourdonnais und Alexander McDonnell über 88 Partien, das 51:37 für den Franzosen endete. Die Schachwelt hatte ihre ersten Erfahrungen mit langen Duellen gewonnen. Über das Duell schrieb Jakow Neistadt, der von Garri Kasparov in Meine großen Vorkämpfer, Band 1, Edition, Olms, S. 22, zitiert und ergänzt wurde:[QUOTE]“Das taktische Spiel von La Bourdonnais, das die Bewegung der Freibauern garantiert, ist sehr beeindruckend, „ so Jakow Neistadt in seinem Buch: „Die ungekrönten Schachmeister“: „Diese Partie verdeutlicht jedoch in weitaus größerem Maße das strategische Übergewicht von La Bourdonnais. Seine Kombinationen basierten auf einem vernünftigen positionellen Fundament. Dies waren die ersten Schritte einer Strategie, die Paul Morphy Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts glanzvoll präsentierte.“ Dem kann ich mich nur anschließen: La Bourdonnais spielte tatsächlich tiefer als sein Gegner, er sah alle verborgenen strategischen Trümpfe, was vorentscheidend für den Ausgang des Matches war[/QUOTE]Doch nur neun Jahre später ging der englisch-französische Dualismus in die nächste Runde. Das Match zwischen Howard Staunton und Pierre Saint-Amant 1843 im [URL="http://www.schachburg.de/threads/864-Das-Cafe-de-la-Regence"]Cafe de la Regence[/URL], das „die Zeitungen als den großen Schachkampf zwischen Frankreich und England bezeichneten“ (ebd., S. 23) sollte sich für Howard Staunton, der wie Usain Bolt einen Blitzstart hinlegte, um dann langsam ins Ziel einzutrudeln, zu einem Triumph entwickeln. Staunton führte nach acht Partien 7,5-0,5 und gewann in dem auf 11 Siege angesetzten Match schließlich umgerechnet mit 13:8. Das Match stieß dabei bei den schachbegeisterten Franzosen auf höchstes Interesse, denn das Cafe de la Regence, der Tempel des Schachs, „war bis auf den letzten Platz gefüllt“ (ebd. S. 22f.). Man kann sich lebhaft vorstellen, wie groß das Entsetzen der Franzosen gewesen sein muß, daß ihr Mann in diesem Prestigeduell so schnell unterging. Howard Staunton, Pierre Saint-Amant, aber auch Louis Paulsen waren in dieser zweiten Epoche der Romantik im Schach, die nach Philidor ansetzte, sicherlich Ausnahmeerscheinungen, denn sie spielten nicht geradeheraus nach vorne, sondern sehr positionell. Zu dem Match bemerkt Kasparov:[QUOTE]Dieses langwierige Match unterschied sich übrigens deutlich von den bisherigen Zweikämpfen zwischen La Bourdonnais und McDonnell. Staunton spielte mit großer Vorsicht und erfaßte intuitiv die positionellen Grundsätze des Spiels, die bis dahin, abgesehen von einigen Regeln Philidors, noch nicht erörtert und formuliert waren. Seine geschlossenen und halboffenen Eröffnungen erlaubten eine ungestörte Entwicklung der Figuren. Saint-Amant agierte sehr solide, seine Spielweise war sehr trocken und kühl, aber eben nicht sehr erfolgreich. Lionel Kieseritzky, einer der außergewöhnlichsten Schachspieler jener Zeit, bemerkte: „Staunton spielt entsprechend einer optimalen Entwicklung seiner Figuren, streng und effektiv, er verfügt über ein tiefgreifendes Verständnis für Position, ist kaltblütig und kann sich rasch auf dem Brett orientieren. Saint-Amant erreicht nicht ganz die Stärke eines La Bourdonnais oder Deschapelles. Beide Spieler spielten die gleichen Eröffnungen. Das Spiel entwickelte sich langsam.“[/QUOTE]Mit diesem Sieg festigte Staunton seinen Ruf, der weltbeste Schachspieler zu sein, und es war sehr enttäuschend für den nächsten Schach-Giganten, Paul Morphy, als dieser, 1858/59 vom fernen Amerika kommend, mit dem Ziel nach Europa fuhr, alle Schachgrößen der alten Welt zu bezwingen, feststellen mußte, daß das Match gegen Howard Staunton irgendwie nicht so recht zustandekommen wollte. Für die Schachwelt war das aber im Prinzip irrelevant, denn niemand, und offensichtlich auch Staunton nicht, zweifelte daran, daß Morphy Staunton geschlagen hätte. Der chronisch erkrankte Staunton hatte seinen Zenit offenbar schon übersprungen, sein Stern war am Sinken, und als weltbester Spieler galt nun das deutsche Kombinationsgenie Adolf Anderssen. Das war der Schachkampf der Giganten, der die Menschen fesseln und bewegen sollte.Dieses Duell war sicherlich spielerisch das anregendste, was bisher stattgefunden hatte, und auch was das Niveau anbelangt, war es selbstverständlich der bisherige Gipfelpunkt. Viele meinen sogar, das Niveau dieser Begegnung, vor allem aber natürlich das Niveau, das Paul Morphy in dieser kurzen Zeit an den Tag gelegt hatte, als er wie ein Orkan in der europäischen Schachwelt wütete und alle bisherigen Hierarchien durcheinander wirbelte, sei erst wieder in vielen Jahrzehnten erreicht worden. Die Meister nach Morphy wirkten lange Zeit irgendwie blaß, und fast fühlt man sich an die Zeit nach Fischer erinnert, wo noch bei den ersten WM-Duellen zwischen Karpov und Kasparov 12 Jahre nach dessen ebenso abrupter Flucht aus der Schachwelt, ungnädig geraunt wurde, ein Fischer hätte es beiden schon gezeigt.1858 jedenfalls stieß der deutsche „Zauberer“ gegen das amerikanische Genie an seine Grenzen und verlor glatt mit 8:3. Auch wenn natürlich immer die individuelle Klasse mit hineinspielt, so sind die meisten der Meinung, Morphy habe sich letztendlich durchgesetzt, weil dieser ein klares positionelles Konzept gehabt hatte. Anderssen konnte sich zwar locker mit seinem Kombinationsspiel durchsetzen, wenn die Gegner Fehler machten und von einem gesunden Positionsspiel nichts verstanden. Aber davon konnte bei Morphy natürlich keine Rede sein. Morphy konnte Anderssen stattdessen sein Spiel aufzwingen, ohne daß er ihm die Gelegenheit zu seinen tödlichen und furchteinflößenden Kombinationen gab. Hier noch einmal ein überzeugendes Argument aus der 9. Matchpartie:[Event "Paris m"][Site "Paris m"][Date "1858.12.27"][Round "9"][White "Paul Morphy"][Black "Adolf Anderssen"][Result "1-0"][ECO "B44"][PlyCount "33"][EventDate "1858.??.??"]1. e4 c5 2. d4 cxd4 3. Nf3 Nc6 4. Nxd4 e6 5. Nb5 d6 6. Bf4 e5 7. Be3 f5 8. N1c3f4 9. Nd5 fxe3 10. Nbc7+ Kf7 11. Qf3+ Nf6 12. Bc4 Nd4 13. Nxf6+ d5 14. Bxd5+Kg6 15. Qh5+ Kxf6 16. fxe3 Nxc2+ 17. Ke2 1-0 Garri Kasparov meint zu Morphys Erfolg:[QUOTE]Worin lag Morphys Unbesiegbarkeit begründet? Ich glaube in der einmaligen Mischung aus Naturbegabung und Belesenheit. Mit seinem Werk erreichte das Schachspiel eine neue, reifere Entwicklungsstufe. Morphy verfügte über ein ausgeprägtes „Gespür für Positionen“, weshalb man ihn zweifellos als Vorboten der großen Schachmeister des 20. Jahrhunderts bezeichnen kann[/QUOTE]Nachdem Paul Morphy nach seinem Triumphzug durch Europa seinen Sport an den Nagel hängte, galt nun wieder Adolf Anderssen als der stärkste (aktive) Spieler der Welt. Nur sieben Jahre nach Morphys Rückzug kam es nun zu einem Duell zwischen Adolf Anderssen und dem aufstrebenden Wilhelm Steinitz, dessen kühne Kombinationen ihm den Spitznamen „österreichischer Morphy“ gaben. Steinitz´ Entwicklung war sicherlich langsamer als die des Wunderkinds Paul Morphy, weswegen sich die Karrieren von Steinitz und Morphy, obwohl Altersgenossen, nie überlappt haben ([URL="http://www.sc-boeblingen.de/schach_neu/Spieler/steinitz.htm"]vergleiche[/URL]). Aber als Steinitz dann kam, feierte auch er glänzende Erfolge, die so groß waren, daß die Engländer, Steinitz´ damaliger Lebensort, schließlich das Match gegen Adolf Anderssen organisierten. 1866 kam es dann in London zum Duell zwischen beiden Kombinationskünstlern. Den vorangegangenen Erfahrungen Rechnung tragend, daß Spieler den unbegrenzten Zeitverbrauch dazu ausnutzten, um den Gegner „totzusitzen“, wurde ein Zeitlimit vereinbart von zwei Stunden für 20 Züge. Diese Doppelstunde bürgerte sich dann auch ein. Das Duell wurde auf acht Siege festgesetzt. In einem packenden Duell ohne jede Remispartie setzte sich schließlich Wilhelm Steinitz mit 8:6 durch und wurde damit inoffizieller Weltmeister, lange bevor er seinen WM-Titel offiziell machen ließ.Doch es war noch der junge Steinitz, der gegen Anderssen gewonnen hatte. Und mit den Resultaten, die sein jugendlicher Stil ihm beschert hatte, war Steinitz nicht immer zufrieden, was ihn schließlich dazu veranlassen sollte, das Schachspiel auf Mark und Bein zu analysieren, die blaue Blume der Romantik zu verlassen und einen wissenschaftlichen Stil einzuführen, sicherlich beeinflußt von Materialismus, [URL="http://www.schachburg.de/threads/921-Beziehungsgeflecht-zwischen-dem-Schachstil-und-dem-Kapitalismus"]Industriekapital[/URL] und wissenschaftsinspiriertem Fortschrittsglauben in der damaligen Zeit, der ihm letztendlich größere Erfolge bescheren sollte und auch noch größere Erfolge beschert hatte. Vergleicht dazu die eigenen Aussagen von Steinitz:[QUOTE]Bei den Turnieren von Paris (1867) und Baden-Baden (1870) hatte ich mit dem ersten Platz gerechnet. Da ich dies nicht erreicht hatte, sah ich mich gezwungen, meine Niederlagen genauer zu analysieren. Mittels des Kombinationsspiels kann man wohl gelegentliche Erfolge erzielen, aber nicht immer triumphieren, da auch die anscheinend aussichtsreichen Opfer oft nicht das gewünschte Ergebnis zeitigen. Im Laufe meines intensiven Studiums ähnlicher Partien entdeckte ich eine Reihe von Fehlern. Zahlreiche verlockende und gelungene Opfer erwiesen sich als falsch. Ich gelangte zu der Erkenntnis, daß die wirksame Verteidigung einer Stellung weniger Streitkräfte erfordert als die erfolgreiche Durchführung eines Angriffs. Somit kann ein Angriff nur dann Erfolg haben, wenn im Lager des Gegners Schwächen vorhanden sind. Seitdem habe ich nach einer einfachen und wirkungsvollen Methode gesucht, durch die die erforderlichen Schwächen in der Stellung des Gegners hervorgerufen werden können[/QUOTE]Mit seiner ausgefeilten, wissenschaftlichen Theorie leitete Wilhelm Steinitz die Moderne im Schach ein. Auch wenn sicherlich nicht alles wahr ist, was Steinitz an Erkenntnissen für das Schach ans Tageslicht befördert hatte, wie etwa die von Steinitz übersehene Tatsache, daß Verteidiger gegenüber dem Angreifer psychologisch im Nachteil sind und sich aus Drucksituationen vielfältigere Möglichkeiten geben als von Steinitz gedacht, so zweifelt an dem Grundgerüst von Steinitz kaum noch jemand. Selbst der Hypermoderne Aaron Nimzowitsch sprach nicht davon, Steinitz´ Theorie ersetzen, sondern nur ergänzen zu wollen. Die Art, wie wir heute Schach spielen, ist eine andere als zu Steinitz´ Zeiten. Aber auch wenn die Theorien von Steinitz nicht das Endziel des Schachs dargestellt haben, so waren sie doch zumindest im dialektischen Sinne eine beträchtliche Weiterentwicklung.

Beitrag von sorim

Wieder einmal ein sehr guter Beitrag von dir, an dieser Stelle ein Dankeschön. Es macht mir riesig spaß es zu lesen, nur weiter so :-)